„Volonté Générale“ (Volkswille)
„Volonté Générale“ (Volkswille) war Titel eines Beitrages des Magazins „philosophie“, Ausgabe Nr. 2/2020, S. 76, von Redakteurin Theresa Schouwink
„Im Heft geht sie unter anderem dem Trend der living funerals nach und erläutert den volonté générale Jean-Jacques Rousseaus.“
So lautet die Ankündigung im Heft. living funerals heißt: lebendige Beerdigung. Sehr treffend, bezogen auf die lebendige Beerdigung der Mündigkeit des Volkes, durch eine Scheindemokratie.
Auf Seite 76 zitiert die Redakteurin Rousseau (aus „Vom Gesellschaftsvertrag“, 1762) wie folgt:
„Es gibt oft einen beträchtlichen Unterschied zwischen dem Gesamtwillen (volonté de tous) und dem Gemeinwillen (volonté générale); dieser sieht nur auf das Gemeininteresse und ist nichts anderes als eine Summe von Sonderwillen: aber nimm von ebendiesen das Mehr oder Weniger weg, das sich gegenseitig aufhebt, so bleibt als Summe der Unterschiede der Gemeinwille.“
Dieses Zitat ist falsch wiedergegeben! Aber wir bringen das hier gern in Ordnung. Im 3. Kapitel, unter der Überschrift „Ob der allgemeine Wille irren kann“, findet sich bei Rousseau folgender Absatz, Zitat:
„Oft ist ein großer Unterschied zwischen dem Willen aller und dem allgemeinen Willen; letzterer geht nur auf das allgemeine Beste aus, ersterer auf das Privatinteresse und ist nur eine Summe einzelner Willensmeinungen. Zieht man nun von diesen Willensmeinungen das Mehr und Minder, das sich gegenseitig aufhebt, ab, so bleibt die Differenzsumme der allgemeine Wille übrig.“ (Originalzitat von Rousseau)
Aber dies schrieb er unter folgendem Zusammenhang, Zitat:
„Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, daß der allgemeine Wille beständig der richtige ist und immer auf das allgemeine Beste abzielt; daraus folgt jedoch nicht, daß Volksbeschlüsse immer gleich richtig sind. Man will stets sein Bestes, sieht jedoch nicht immer ein, worin es besteht. Das Volk läßt sich nie bestechen, wohl aber oft hinter das Licht führen, und nur dann scheint es Böses zu wollen.“ (Originalzitat von Rousseau, fett von mir)
Es geht also um Volksbeschlüsse und das Finden gemeinsamer Interessen und für einen jeweiligen Volksbeschluss um ein gemeinsames Interesse für ein entsprechendes Gesetz. Natürlich kann ich hier nicht das gesamte Werk von Rousseau zitieren, aber ich empfehle es selbst zu lesen. Auf ihre eigene Zitatkreation fragt die Redakteurin, Zitat:
„Die Relevanz
Wie lässt sich Herrschaft legitimieren? Als erster moderner Denker antwortet Rousseau hierauf, dass die Macht beim Volk selbst liegen müsse. Ihm schwebt allerdings keine repräsentative Demokratie mit konkurrieren-den Parteien vor. Vielmehr solle der „Gemeinwille“, mit dem sich alle Bürger identifizieren, leitend sein. Die Idee erfuhr unterschiedlichste Ausdeu-tungen: Die Jakobiner verstanden sie zur Zeit der Französischen Revolution als Rechtfertigung ihrer Terrorherrschaft, die 68er hingegen als Anleitung zur Basisdemokratie. In unserer gegenwärtig stark polarisierten Gesellschaft verweist der „Gemeinwille“ vor allem auf eine drängende Frage: Kann politischer Zusammenhalt bestehen, wenn Individuen und Gruppen jeweils nur ihre eigenen Interessen verfolgen?“
und erklärt, Zitat:
„Die Erklärung
Rousseau unterscheidet den „Gemeinwillen“ vom „Gesamtwillen“. Letzteren hält er für problematisch, weil er lediglich von „Privatinteressen“ motovierte „Sonderwillen“ summiert. Auf diese Weise könnten sich Mehrheiten für Entscheidungen ergeben, die das „Gemeininteresse“ gefährden. Beispielsweise wäre es wohl im Privatinteresse vieler, keine Steuern zu zahlen. Würde man nun deshalb alle Steuern abschaffen, wären die Folgen für die Allgemeinheit desaströs. Rousseau fordert, dass jeder Bürger sich als Teil des Ganzen begreift und sich fragt, was er für das Zusammenleben aller will. Wenn so das jeweils Partikulare von den Sonderwillen abgezogen wird, ergibt sich ein einstimmiger und vernünftiger „Gemeinwille“ – zumindest in der Theorie.“
In der Praxis wird mit dem so genannten „vernünftigen Gemeinwillen“, dem „Vollswillen“, dem „volonté générale“ die Diktatur der herrschenden Klasse legitimiert und dafür auch noch Rousseau herangezogen, der ein radikal demokratisches Staatsmodell entwickelt hat, in dem die Beschlüsse, also die Gesetze, vom Volk gemacht werden, namentlich vom Verfassungsvolk – zumindest in der Theorie.
In der Praxis repräsentativer Systeme triumphieren Privatinteressen Einzelner. Einen einzigen allgemeinen Volkswillen kann es niemals geben, weil es unmöglich ist, ihn festzustellen oder gar noch für die Zukunft zu fesseln. Aber es ist möglich das Volk zu fesseln, nämlich an den Willen einer Herrschenden Klasse unter Behauptung im Namen des Volkes zu entscheiden. Und diese Art von „Legitimation“ ist Entmündigung.
„Das Volk läßt sich nie bestechen, wohl aber oft hinter das Licht führen, und nur dann scheint es Böses zu wollen“,
schrieb Rousseau. Wenn er heute sehen könnte, wie oft es schon hinters Licht geführt wurde, im Namen des Volkes, vielleicht hätte er einige Absätze nochmal überdacht.
Der „volonté générale“ (Volkswille) wurde unter Herrschaft der Jacobiner und dessen Führer Robespierres an die Stelle des Konsents gesetzt und die Rechtsprechung erfolgte unter dieser Herrschaft nicht mehr im Namen der Republik, sondern im Namen des Volkes. Das Wort „Wille“ schließt aber die vielfältigen Prozesse des Meinungsaustausches, des Hörens und des Gehörtwerdens aus. Die Behauptung, dass es einen Volkswillen gibt, kann nur von jemanden aufgestellt werden, der ihn gegen die begrenzte Übereinstimmung eines Staatsvolkes in Form eines „Konsent“ in absoluter Weise durchsetzen und mit allen Mitteln durchzusetzen gedenkt und natürlich alle Andersdenkenden als Feinde des „Volkswillens“ deklariert. Dies erzeugt automatisch eine Diktatur dieses von wem auch immer verorteten „Volkswillens“ und vernichtet jeden föderalen Ansatz.
Wie oft berufen sich auch heute Politiker und deren Agitatoren auf eine imaginäre „öffentliche Meinung“, um jede Kritik an ihrem Handeln als gegen den „Volkswillen“ gerichtet zu kennzeichnen? Bei der „öffentlichen Meinung“ verweist man natürlich auf den „volonté générale“ (Volkswillen), aber eben nicht auf eine Meinung, auf die sich viele in einer öffentlichen und demokratischen Debatte geeinigt haben. Eine solche unter Umständen lang andauernde Einigung eines Staatsvolkes, hat nichts mit einem „Willen des Volkes“ zu tun, der von Inhabern der staatlichen Gewalt von Zeit zu Zeit benutzt wird, um deren unliebsame Entscheidungen gegen Widerstände legitimieren zu wollen. Die jüngsten Beispiele so genannter Allgemeinverfügungen zeigen sehr anschaulich ein Prinzip zur Selbstermächtigung, auf Basis des „volonté générale“ (Volkswillens), genau die gleiche Basis wie vor 170 Jahren, als 1851 mit Napoleon dem III. (Louis Napoléon Bonaparte) die erste Diktatur aus der Taufe gehoben wurde, die als Blaupause dienen konnte, für die späteren Faschisten, mit Hilfe einer Volkswahl, dem „volonté générale“ und anschließendem Staatsstreich, eine Diktatur zu errichten.
Napoleon der III. | Immer wieder erfreut sich der Plebiszit, die Volksabstimmung, die Volksbefragung bei diktatorischen Machtgebilden großer Beliebtheit, um es anschließend zum Volkswillen, oder zum Volksbeschluss zu erklären, was der Diktatur die Legitimation zur anschließenden Verfolgung aller bei der Abstimmung unterlegenen Meinungen liefert. |
„Man könnte die Verfassungsgeschichte Frankreichs, wo noch in den Revolutionsjahren eine Verfassung auf die andere folgte, während die Machthaber außerstande waren, auch nur ein Minimum der unzähligen revolutionären Gesetze und Verordnungen durchzusetzen, als eine nicht abreißen wollende Kette von Demonstrationen zitieren, die immer wieder bewiesen, was ja eigentlich von Anfang an hätte klar sein müssen, daß nämlich der sogenannte Wille eines Kollektivs (wenn man darunter mehr als eine legale Fiktion versteht) sich von Tag zu Tag, ja von Minute zu Minute ändert, und daß ein Gebilde, das man auf dem Nationalwillen errichtet, auf Sand gebaut ist. Das Einzige, was die auf der volonté gérérale gegründeten Nationalstaaten immer wieder vor dem unmittelbaren Zusammenbruch rettet, ist die phantastische Leichtigkeit, mit der jeder, der Lust auf die Last und Glorie der Diktatur hat, diesen sogenannten Nationalwillen manipulieren und sich unterwerfen kann. Die Diktatur ist die Regierungsform, die dem Nationalstaat gleichsam auf den Leib geschrieben ist, und Napoleon Bonaparte war nur der erste und ist immer noch einer der größten unter den nationalen Diktatoren, der unter dem Beifall der gesamten Nation erklären konnte: »Je suis le pouvoir constituant«. Jedoch bedurfte es des Diktats des Willens eines Mannes, in dem sich die nationalstaatliche Fiktion eines einmütigen Volkswillens verkörpern konnte, immer nur in Krisenzeiten; es war nicht der Wille, sondern das Interesse, die solide Struktur der Klassengesellschaft, die dem Nationalstaat sein eigentliches Fundament verlieh. Und dieses Interesse – das intérêt du corps , mit den Worten Sieyès’, durch das nicht der Bürger, sondern der Privatmensch »sich mit anderen Privatmenschen zusammenfindet« – war niemals eine Äußerung des Willens, sondern eine weltliche Gegebenheit bzw. die Manifestation der jeweiligen Weltteile, die bestimmte Gruppen, Corps oder Klassen, gemeinsam hatten, weil sie sie zusammen bewohnten oder besaßen. (Hanna Arendt, „Über die Revolution“, Seite 230)“
Aus diesem Grunde kann man gerade angesichts aktueller politischer Krisen den Begriff des „volonté générale“ nicht nur oberflächlich streifen und sollte wenigsten die verschiedenen Auswüchse der Geschichte etwas näher beleuchten. Nicht zuletzt die Auswüchse der Volksgerichtshöfe eines so genannten „3. Deutschen Reichs“.
Der Plebiszit, die Volksabstimmung, die Volksbefragung, werden gerade wieder sehr populär in der demokratisch gesinnten Bevölkerung und entsprechenden Vereinigungen – auch unter dem Synonym „Direkte Demokratie“. Bei aller Gutwilligkeit, dies zu fordern, wird der versteckte Haken daran meistens übersehen: Die fehlende Gesetzesinitiative!
Und die liegt nicht beim Volk, sondern in Repräsentativsystemen, bei den Repräsentanten. Sie bestimmen die Fragen beim Plebiszit und nicht das Volk. Dadurch ist es für die Machthaber sehr einfach, den Ausgang einer Volksabstimmung ganz nach Wunsch ihrer heiß ersehnten Legitimation vorher schon zu bestimmen und natürlich mit Hilfe ihrer Massenmedien manipulativ nachzuhelfen. Die so gewonnene Legitimation lässt sich für alle möglichen Verbrechen benutzen, die die Machthaber natürlich bis dahin geheim halten.
Der Plebiszit, die Volksabstimmung, die Volksbefragung, Direkte Demokratie, sind die beste Methode, jede Forderung nach Volksherrschaft (Demokratie), also jeder Forderung danach, die Gesetzesinitiative dem Volk zu überantworten (Demokratie), zu bekämpfen. Und zwar mit einem Fake! Und dieser Fake heißt „Plebiszit“, „Volksabstimmung“, „Volksbefragung“ oder „Direkte Demokratie“ – solange die Gesetzesinitiative bei den Repräsentanten liegt.
Alle Repräsentativsysteme basieren auf dem „volonté générale“ und heben ab, auf eine Diktatur der Mehrheit, die gar nicht die Mehrheit ist. Dazu ein Rechenbeispiel:
Von denen, die 2017 abstimmen durften, hatten sich 76,2% an der Bundestagswahl beteiligt. Von diesen 76,2 Prozent wählten 26,8% die CDU, 20,5% die SPD und 6,2% die CSU. Das heißt, sie wählten die Wahlprogramme dieser Parteien, an die die Personalien, die von den jeweiligen Parteien selbst bestimmt werden, gar nicht gebunden sind. Weil sie an nichts gebunden sind, außer ihrem Gewissen. Aber was ist das Gewissen?
Nichts!
Die CSU, mit 6,2% darf den Innenminister stellen (Horst Seehofer). Und die CDU, mit 26,8%, darf den Bundeskanzler stellen (Angela Merkel), sowie das Ministeramt für „Verteidigung“ (Annegret Kramp Karrenbauer) und den „Gesundheits“minister (Jens Spahn). Macht und Gewalt liegen also in der Hand von 4 Vorsitzenden zweier Parteien, die 26,8+6,2=33 mit 33% in der wahlberechtigten Bevölkerung vertreten, und genauer gerechnet, bei einer Wahlbeteiligung von 76,2% der wahlberechtigten Bevölkerung vertreten diese Repräsentanten 25,2% der wahlberechtigten Bevölkerung in den Wahlprogrammen von CDU und CSU. Aber was ist das Wahlprogramm für die Regierung?
Nichts!
Die Polizeiknüppel der Beamten des Herrn Seehofer knüppeln mit der Legitimation von 4,7 Prozent (von 76,2% der wahlberechtigten Bevölkerung für die CSU) die Coronaproteste nieder. 4,7 Prozent würden nicht einmal ausreichen, um überhaupt in den Bundestag zu kommen. Aber für den „volonté générale“, für den Betrug mit dem Volkswillen, reicht es. Und diese Rechnung ist immer noch falsch und die Zahlen immer noch zu hoch. Der Anteil der Menschen, die nicht abstimmen durften, weil sie als „Ausländer“ im Sinne des Artikels 116 Absatz 1 GG nicht wahlberechtigt sind, lag 2017 in Deutschland mit ca. 10,7 Millionen bei etwa 12,9% Anteil an der Gesamtbevölkerung von ca. 83 Millionen. Nur ca. 61,68 Millionen waren bei der Bundestagswahl 2017 wahlberechtigt. Diejenigen, die arbeiten und Steuern zahlen und den Staatsapparat mitfinanzieren und uns alle mitfinanzieren aber nicht abstimmen dürfen, weil sie „Ausländer“ sind, dürfen nicht wählen? Diesen Anteil mit eingerechnet wäre die wahre Legitimation eines Herren Seehofer so niedlich, dass es für ihn peinlich sein müsste, überhaupt einmal in die Kamera seiner Medien reinzugucken. Vermutlich spüren das die Vertreter der CSU und züchten insgeheim aus diesem Grund einen Hotspot der Ausländerfeindlichkeit. Was können also „Ausländer“ von dieser so genannten „westlichen Demokratie“ nur halten?
Nichts!
Was bedeutet das für die Wahlen insgesamt?
Betrug!
Abgesehen von dem mehrfachen Betrug und dem mehrfachen Nichts hat sich Rosseau zu geheimen Abstimmungen wie folgt geäußert, Zitat:
„Die Stimmeneinsammlung war bei den Römern in der ersten Zeit ebenso einfach wie ihre Sitten, wenn auch nicht ganz so einfach wie in Sparta. Jeder gab seine Stimme laut ab, während ein Schreiber sie der Reihe nach aufschrieb (…) Diese Sitte war gut, solange noch Redlichkeit unter den Staatsbürgern herrschte und jeder sich schämte, öffentlich für eine ungerechte Sache oder einen ungerechten Menschen zu stimmen; als das Volk jedoch verdorben war und man die Stimmen kaufte, zog man geheime Abstimmungen vor, um die Käufer in Mißtrauen zu halten und den Betrügern zu ermöglichen, nicht als Verräter zu erscheinen.“ (Jean Jacues Rousseau „Der Gesellschaftsvertrag Prinzipien des politischen Rechtes“, Seite 175)
Für das ganze Ausmaß von Betrug, Frechheit und Dreistigkeit lieferte der ehemalige Bundeskanzler Schröder ein sehr aktuelles Beispiel, dass veröffentlicht wurde auf der Nachrichtenseite von t-online, am 25.05.2020, siehe hier.
Zitat:
„Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sieht in den Protesten gegen die Einschränkung der Freiheitsrechte in der Corona-Krise eine „soziale Gefährdung der demokratischen Substanz“.“
Natürlich hat sich gerade die SPD mit der unverblümten Arroganz ihrer Repräsentanten, den ehemaligen und den amtierenden, ihren prozentualen Absturz in der Bevölkerung redlich verdient. Die Beleidigung eines Herrn Schröder, gegenüber der demokratischen Substanz, also der Bevölkerung, die er hier „Idioten“ nennt, bestätigt diesen Trend. Die „Dankbarkeit“ für seine Legitimation ist diesem ehemaligen Repräsentanten förmlich ins Gesicht geschrieben und das Attribut, das Herr Schröder hier gebraucht, richtet sich von ihm zwar nicht gewollt, aber doch augenscheinlich auf alle, die den „volonté générale“ (Volkswillen) bejubelnd, sich Mund- und Nasenschutz freiwillig anlegen. Und das ist eine Minderheit in der Bevölkerung, wovon sich jeder selbst durch eigene Beobachtung überzeugen kann.
Rousseau hätte sich zu seiner Zeit ganz sicher nicht träumen lassen, wozu seine Worte benutzt werden. Er war es, der Volksvertreter strikt ablehnte, Zitat:
„Die Staatshoheit kann aus demselben Grunde, die ihre Veräußerung unstatthaft macht, auch nicht vertreten werden; sie besteht wesentlich im allgemeinen Willen, und der Wille läßt sich nicht vertreten; er bleibt derselbe oder er ist ein anderer; ein mittleres kann nicht stattfinden. Die Abgeordneten des Volkes sind also nicht seine Vertreter und können es gar nicht sein; sie sind nur seine Bevollmächtigten und dürfen nichts beschließen. Jedes Gesetz, das das Volk nicht persönlich bestätigt hat, ist null und nichtig; es ist kein Gesetz. Das englische Volk wähnt frei zu sein; es täuscht sich außerordentlich; nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder ist es frei; haben diese stattgefunden, dann lebt es wieder in Knechtschaft, ist es nichts. Die Anwendung, die es in den kurzen Augenblicken seiner Freiheit von ihr macht, verdient auch wahrlich, daß es sie wieder verliert. Der Gedanke der Stellvertretung gehört der neueren Zeit an. Die Vertretung ist der Ausfluß jener unbilligen und sinnlosen Regierungsform der Feudalzeit, in der die Menschenwürde herabgewürdigt und der Name Mensch geschändet wird.“ (Jean Jacues Rousseau „Der Gesellschaftsvertrag Prinzipien des politischen Rechtes“, Seite 140)
Aber seine Theorie hatte Schwächen an anderen Stellen. Und alle Repräsentanten und Ditatoren setzten natürlich darauf auf und würden am liebsten den zitierten Absatz schwärzen, würden sie sämtliche Exemplare seines Werkes habhaft werden.
Sehr gern wurde aber Rousseaus Konstruktion einer vielköpfigen „Einheit“ einer fiktiv angenommenen Nation, die vorher durch den Absolutismus des Königs gegeben war, von allen Vertretern des Bürgertums, und daher von der Eigentümerklasse genommen, weil diese theoretische Konstruktion Nationalismus begründet und damit ihre despotische Herrschaft in jedem Falle begünstigt und den Blickwinkel von unten nach oben, von den Eigentumslosen zu den Eigentümern und daher von den Geknechteten auf ihre Herrscher, vernebelt.
Der „Volkswille“ einer Nation setzt stillschweigend die Existenz eines äußeren und inneren Feindes voraus, den es ständig zu bekämpfen und zu vertilgen gilt. Wer also einen fiktiven „Volkswillen“ proklamiert, möchte die Jagd auf die äußeren und inneren Volksfeinde eröffnen und damit seine diktatorische Herrschaft rechtfertigen, was Hannah Ahrendt sehr detailliert analysierte, Zitat:
„Rousseaus Theorien kamen den Männern der Französischen Revolution so außerordentlich gelegen, weil er anscheinend ein höchst ingeniöses Mittel gefunden hatte, eine Vielzahl von Menschen an den Platz zu stellen, der bisher von einer einzigen Person ausgefüllt worden war; denn der Allgemeine Wille war nichts mehr und nichts weniger, als was die Vielen in eine Einheit zusammenbinden sollte. Für diese Konstruktion einer vielköpfigen Einheit bediente sich Rousseau eines verführerisch einfachen und einleuchtenden Beispiels. Er ging von der bekannten Erfahrung aus, daß zwei einander widerstreitende Interessen einmütig werden, sobald sie mit einem dritten Interesse konfrontiert sind, das sie beide gleicherweise bekämpft. Politisch gesprochen, setzte er stillschweigend die Existenz eines auswärtigen Feindes voraus, vor dem ja auch alle Interessenkämpfe im Innern der Nation dahinfallen und dem gegenüber die Nation einmütig wird. Nur unter der Voraussetzung unmittelbarer außenpolitischer Gefährdung kann es überhaupt so etwas wie »la nation une et indivisible«, das Ideal des französischen und allen sonstigen Nationalismus, geben. Darum kann sich die nationale Einheit nur in Fragen der Außenpolitik realisieren, und selbst da nur unter der Voraussetzung einer zumindest potentiellen Feindschaft. Auf dieser Binsenwahrheit beruht im Grunde die gesamte nationale Politik, wie wir sie aus dem neunzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert kennen, und sie folgt so offensichtlich aus der Theorie von einem Allgemeinen Willen, der die Nation beseelen müsse, daß Saint-Just bereits mit ihr völlig vertraut war: Nur außenpolitische Angelegenheiten könnten überhaupt eigentlich »politische« genannt werden, während das übrige Gebiet menschlicher Beziehungen unter das »Gesellschaftliche« fiele. (»Seules les affaires étrangères relevaient de la ›politique‹, tandis que les rapports humains formaient ›le social‹.«) Rousseau selbst aber ging einen Schritt weiter. Ihm genügte der äußere Feind als das die Nation einigende Prinzip nicht, er wollte, daß die Einheit und Einmütigkeit aus der Nation selbst aufsteige und so auch in der Innenpolitik wirksam werde. Das hieß aber, daß er den gemeinsamen Feind, der die Vielen in ein Eines zwingt, im Lande selbst entdecken mußte, und seine Lösung dieses Problems besagte, daß der allen gemeinsame Feind im Innersten jedes Bürgers existiere als dessen Einzelwille und Eigeninteresse. Der, wenn man so sagen will, Trick dieser Lösung besteht darin, daß dieser verborgene, innere Feind in der Brust jedes Einzelnen – der ja offensichtlich das gerade Gegenteil des ursprünglich gemeinten allen gemeinsamen Feindes ist – zum Rang eines die Nation von innen vereinigenden Prinzips aufsteigen Übereinstimmung zweier besonderer Interessen«, sagt Rousseau, indem er zustimmend den Marquis d’Argenson zitiert, »geht aus dem Gegensatz gegen ein drittes hervor. Er [d. h. d’Argenson] hätte noch hinzufügen können, daß die Übereinstimmung aller Interessen die Folge des Gegensatzes derselben gegen das eines jeden einzelnen ist . Gäbe es keine verschiedenen Interessen, so würde man das gemeinschaftliche, da es nie Hindernisse fände, kaum wahrnehmen. Alles würde ganz von selbst gehen, und die Politik würde aufhören, eine Kunst zu sein.« Dem Leser mag die merkwürdige Gleichsetzung von Wille und Interesse in dem Vorhergehenden aufgefallen sein, die das nie ausdrückliche theoretische Fundament der politischen Lehren Rousseaus bildet. Er braucht die beiden Worte durch den ganzen Contrat Social hindurch synonym, und er setzt stillschweigend voraus, daß der Wille nichts anderes ist als die gleichsam automatische Artikulierung eines Interesses. Daraus folgt für Rousseau, daß der Allgemeinwille eben die Artikulierung des Gesamtinteresses ist, des Interesses des Volkes oder der Nation im ganzen, und da dieses Interesse oder dieser Wille allgemein sind, können sie nur dadurch hervorgerufen werden, daß Einzelinteressen und Eigenwillen ihnen feindlich entgegenstehen. In der Rousseauschen Konstruktion braucht die Nation nicht mehr auf den Feind zu warten, der die Landesgrenzen bedroht, um sich »wie ein Mann« zu erheben und die »union sacrée« zu vollziehen; die Einheit der Nation ist dadurch garantiert, daß jeder Bürger den Landesfeind in seiner eigenen Brust trägt und mit ihm auch das Allgemeininteresse, das nur der gemeinsame Feind wecken kann. Denn der allen gemeinsame Feind ist das Einzelinteresse und der Eigenwille eines jeden. Nur wenn jeder Einzelne sich selbst in seiner Vereinzelung den Krieg erklärt, kann er in die Lage kommen, in sich selbst seinen eigenen Feind zu erzeugen, und dieser Feind jedes Einzelnen als Einzelnen ist der Allgemeinwille; wenn ihm dies gelingt, ist er ein wirklicher und verläßlicher Bürger des Nationalstaats geworden. Denn »zieht man nun von diesen Willensäußerungen das Mehr und Minder, das sich gegenseitig aufhebt, ab, so bleibt als Differenzsumme der Allgemeinwille übrig«. Um der politischen Gemeinschaft der Nation anzugehören, muß der Bürger imstande sein, in einer ständigen Rebellion gegen sich selbst und seine eigenen Interessen zu leben. Das Mitleiden mit anderen, das dem eigenen Interesse ja durchaus entgegensteht, ist gleichsam die seelische Stimmung, in der sich diese Rebellion gegen sich selbst und das Einschwingen in den Allgemeinwillen am einfachsten und natürlichsten realisieren läßt. Nun hat es natürlich keinen nationalen Staatsmann gegeben, der Rousseau je auf diesem Wege ins logisch Extreme gefolgt wäre, und wenn die gängigen nationalistischen Begriffe des Staatsbürgers auch weitgehend von der Voraussetzung des Landesfeindes ausgehen und auf ihr beruhen, so hat doch niemand je ausdrücklich gesagt, der allen gemeinsame Feind sitze in der eigenen Brust und jeder Bürger sei, sofern er ja notwendigerweise auch ein Einzelner ist, bereits ein potentieller Verräter. Anders aber steht es mit den Revolutionären und der revolutionären Tradition. Nicht nur in der Französischen Revolution, sondern in allen Revolutionen, die ihrem Beispiel folgten, erscheint das Einzelinteresse als eine Art gemeinsamer Feind, und die Terrortheorien von Robespierre bis Lenin und Stalin nehmen alle als selbstverständlich an, daß das Gesamtinteresse automatisch und ständig in Feindschaft liege mit dem Eigeninteresse jedes einzelnen Bürgers. (Hanna Arendt, „Über die Revolution“, Seite 100 – 105)
In einer Demokratie (Volksherrschaft) kann es nur einen Konsens eines Gemeinwesens zu bestimmten Fragen geben, der immer wieder neu zu verhandeln ist, sobald er in Frage gestellt wird, aber keine Diktatur eines imaginären Volkswillens. Politische Herrschaft beschneidet unsere Freiheit nur dann nicht, wenn wir sie selbst ausüben. Das! ist Rousseau.
Jürgen Michael Hackbarth
Holger ThurowN.
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