Warum Generalamnestie für alle?
Wer sich die erste Seite des Aufstands [älterer Ausgaben] genauer anschaut, findet wie in allen Ausgaben die Formulierung „für eine Gesellschaft der Gleichen und Generalamnestie für alle“. Diese Aussage ist auch ein zentraler Grundsatz des Vereins UMEHR, der die Zeitschrift rechtlich trägt. Während ihr erster Teil von kritischen Menschen in Kontakt mit UMEHR im Allgemeinen recht gut akzeptiert wird, stößt der zweite Teil „Generalamnestie für alle“ häufig auf Unverständnis. Nehmen wir das Beispiel aus der Corona-Zeit: Infolge der beispiellosen Aggression gegen Verweigerer der Covid-Impfstoffe, die diffamiert und diskriminiert wurden, entstand bei viele Ungeimpften große Wut bis an die Grenze zum Hass auf die verantwortlichen Politiker und ihre Unterstützer. Durch die aktive Beteiligung und Organisation von Großdemonstrationen gegen die Corona-Beschränkungen kam UMEHR natürlich mit vielen Ungeimpften in Kontakt, die mit dem Prinzip der Generalamnestie für alle nicht einverstanden waren. „Wie kann man diese Verbrecher nur laufen lassen?“ oder „Es ist ungerecht, dass es keine Konsequenzen für die Verantwortlichen für diese Verbrechen geben soll!“, so lauten häufig die Aussagen sinngemäß. Während ich als selbst Ungeimpfter die Wut, den Zorn und die Frustration vollkommen nachvollziehen kann, denke ich, dass Rache und als Folge davon Bestrafung destruktive Wege sind, wenn man eine neue und bessere Gesellschaft aufbauen will. Für mich ist eine Generalamnestie für alle der konstruktivere Weg, und in diesem Artikel möchte ich diesen Standpunkt am Beispiel der Corona-Krise erläutern.
Vermeidung von Blutvergießen und Gewalt
Wann ist ein Tier am gefährlichsten? Wenn es in die Enge getrieben wird und keine Möglichkeit hat zu entkommen. Weil es in diesem Fall keine andere Wahl hat als zu kämpfen. Dieses Prinzip gilt auch für politischen Umschwung. Wenn man einen friedlichen Ablauf will, muss man eine „Fluchtmöglichkeit“ in Betracht ziehen für die Machthabenden des Systems, das man ändern will. Viele Menschen in der Politik, in Unternehmen und in den Medien sind Opportunisten, die die beste Entscheidung für sich selbst treffen. Ein politisches Kräfteverhältnis, das sich immer mehr gegen sie wendet, wird sie nach Möglichkeiten suchen lassen, unbeschadet aus der Sache herauszukommen. Bietet man ihnen also solche Möglichkeiten, werden sie diese dankbar nutzen, schon allein um ihre eigene Haut zu retten. Proklamiert man dagegen ihre Bestrafung, Gefängnis oder gar Schlimmeres, wird nicht nur ihre Propaganda das Bild von blutrünstigen Rebellen dankbar nutzen, sondern sie werden schon um ihrer selbst willen mit allen Mitteln bis zum letzten Widerstand dagegen ankämpfen. Denn das ist die einzige Option, die ihnen bleibt. Ein politischer Umschwung unter solchen Bedingungen wird schmutzig und blutig werden.
Nehmen wir als Beispiel ein fiktives Land, in dem gerade ein politischer Wechsel stattfindet und eine Masse von fünf Millionen wütenden Demonstranten zum Regierungsgebäude marschiert. Im Gebäude haben sich die regierenden Politiker mit tausend Mitgliedern einer schwer bewaffneten, ihnen ergebenen Spezialeinheit verschanzt. Die Chancen stehen eindeutig gegen die Politiker und ihre Lakaien, da sie zahlenmäßig deutlich unterlegen sind. Wie werden sie also entscheiden, was als Nächstes zu tun ist? Das hängt eindeutig vom Verhalten der Demonstranten ab. Wenn die Demonstranten in einem ersten Szenario erklären, dass sie den Politikern im Falle eines kampflosen Abzugs keinen Schaden zufügen werden (und natürlich ihr Versprechen einhalten), werden diese höchstwahrscheinlich die Gelegenheit nutzen und ihren Spezialkräften befehlen, die Waffen niederzulegen und sich friedlich zu ergeben. Schließlich wäre dies ihre sicherste Option. Wenn die Demonstranten in einem zweiten Szenario jedoch ankündigen, die Politiker aufzuhängen, werden diese höchstwahrscheinlich den Spezialkräften befehlen, auf die Demonstranten zu schießen. Denn sie haben einfach keine andere Möglichkeit mehr. Selbst ein verzweifelter, nicht zu gewinnender Kampf wie dieser dürfte aus ihrer Sicht die bessere Option sein Denn er bietet ihnen eine höhere Chance, mit dem Leben davonzukommen, als sich den Demonstranten zu ergeben, was den sicheren Tod bedeuten würde.
Was den politischen Wandel betrifft, so wäre das Ergebnis des Sturzes der derzeitigen Regierung in beiden Szenarien dasselbe. Doch während der Wandel im ersten Szenario friedlich vonstattengeht, würde das zweite Szenario nicht nur ein Blutbad mit Tausenden oder Zehntausenden von Toten zur Folge haben, sondern auch die Barbarei vieler Demonstranten, die sich durch Mord die Hände schmutzig machen. Welches Szenario wäre das bessere, wenn man ein neues, demokratischeres System mit konstruktiven Ansätzen etablieren will?
Wo sollen wir überhaupt anfangen?
In Anbetracht der Corona-Krise sprechen kritische Gruppen oft über die Bestrafung der Schuldigen für all die Geschehnisse. Für die Lockdowns, die Unternehmen zerstörten oder schwer beschädigten, insbesondere die kleinen, familiengeführten. Für den Missbrauch von Kindern in Form eines Maskenzwangs, obwohl sie vom Virus kaum bedroht waren. Für die Aggressivität, Rücksichtslosigkeit und Diskriminierung von Menschen, die sich nicht gegen Covid impfen lassen wollten. Doch wer sind eigentlich die Verantwortlichen, wer sind die Schuldigen? Kritische Gruppen bezeichnen oft die Politiker als schuldig, die die Maßnahmen beschlossen haben. Oder die Journalisten, die sie durch Diffamierung aller kritischen Stimmen unterstützt haben. Oder die Richter, die den Maßnahmen rechtliche „Segnung“ erteilten und Widersprüche zurückwiesen. Aber aus meiner Sicht übersteigt die Zahl der Schuldigen diese Gruppen allerdings bei Weitem.
Es ist leicht, nur die Personenkreise zu beschuldigen, die an zentralen Schaltstellen gesessen haben und immernoch sitzen. Aber sind sie wirklich die einzigen Schuldigen? Wie steht es mit der Verantwortung und Schuld der einfachen Bürger, die evidenzlose Corona-Maßnahmen häufig unhinterfragt akzeptiert und deren Durchführung aktiv oder passiv unterstützt haben, angestachelt durch mediale Dauerpropaganda? Sind die Chefs, die ihren Angestellten mit „Impfung oder Kündigung“ gedroht haben, nicht genauso schuldig wie die Menschen an den zentralen Schaltstellen? Oder die Polizisten, die absolut legitime Proteste gewaltsam aufgelöst haben, mit vorgeschobenen Gründen wie völlig sinnlosen Maskenpflichten im Freien? Die Lehrer, die das beispiellose Test- und Maskenregime in Schulen aktiv unterstützt und unwillige Kinder massiv unter Druck gesetzt haben? Oder die Familienangehörigen, die jeden Kontakt zu ihren ungeimpften Verwandten verweigerten und ihnen schwere Vorwürfe gemacht haben?
Aus meiner Sicht sind sie genauso schuldig wie Politiker, Journalisten oder Richter, da es mehr als genügend Gelegenheiten gab, die Corona-Maßnahmen kritisch zu hinterfragen und zumindest in ihrem begrenzten Einflussgebiet alternativ damit umzugehen. Wenn man also die Schuldigen an der Corona-Krise bestrafen will, muss man auch diese Menschen bestrafen. Aber wie bestraft man Millionen von Menschen? Wie findet man sie überhaupt heraus? Wo kann man die Grenze ziehen, ob jemand schuldig oder unschuldig ist? Kann eine passive Akzeptanz und Befolgung unethischer Maßnahmen, wie es wahrscheinlich die Mehrheit der Bevölkerung getan hat, nicht auch als Schuld betrachtet werden? Ich denke, derartige Überlegungen sind schlicht und einfach nicht zielführend. Denn es ist unmöglich, Millionen von Menschen zu bestrafen, ebenso wie es unmöglich ist, überhaupt gerechte und objektive Kriterien zur Feststellung von Schuld festzulegen. Der Gedanke der gesellschaftlichen Aufarbeitung und Versöhnung sollte m.E. daher im Vordergrund stehen.
Neue Wege beschreiten
Abgesehen davon, dass es unmöglich ist, alle Schuldigen und ihre willigen Unterstützer zu bestrafen, halte ich politische Säuberungs- und Bestrafungswellen für einen denkbar schlechten Weg, um eine neue Gesellschaftsordnung zu beginnen. Schaut man mal in die Geschichte, wie haben denn alle Revolutionen, Aufstände und sonstigen Umwälzungen geendet? Die frühere Regierung bzw. das frühere System wurden gestürzt. Und das erste, was die neuen Machthaber taten, war eine nicht selten gewaltsam stattfindende „Säuberung“ von den alten Strukturen und Menschen. Während die neuen Machthaber anfangs vielleicht von Idealismus getrieben waren, wurden sie schnell korrumpiert von ihrer Macht und waren nicht mehr bereit, sie abzugeben. Also begannen sie, Maßnahmen zu ergreifen, um sich um jeden Preis an der Macht zu halten, sei es durch Gewalt, Korruption, Lügen, Propaganda oder eine Kombination dieser Mittel. Obwohl sie oft etwas anderes proklamierten, manchmal sogar die Gleichheit aller Menschen, war das langfristige Ergebnis aller politischen Umwälzungen letztendlich nur ein Austausch der privilegierten Eliten. Dieselben alten Strukturen und Prozesse, nur in einem neuen Gewand.
Wenn wir eine neue, radikaldemokratische Gesellschaft aufbauen wollen, müssen wir undemokratische Strukturen und Prozesse hinter uns lassen und auf demokratische Weise dafür sorgen, dass sie nicht wiederkehren können. Ich möchte hier nicht im Detail darauf eingehen, was ein radikaldemokratisches System ist, da es nicht das Thema dieses Artikels ist und somit seinen Rahmen sprengen würde. Aber es erfordert ein völlig anderes Denken und völlig andere Ansätze. Die Schaffung von Strukturen und Prozessen, die sowohl demokratisch als auch sicher gegen Missbrauch und undemokratischen Umsturz sind, erfordert die Anstrengungen der gesamten Gesellschaft. In Anbetracht des Ausmaßes der Veränderungen, die vorgenommen werden müssen, halte ich es für eine denkbar schlechte Idee, Ressourcen damit zu verschwenden, aus Rache Jagd auf alle Schuldigen aus dem alten System zu machen. Dieser Ansatz ist in meinen Augen vollkommen destruktiv und schafft nur weiteres zukünftiges Konfliktpotenzial. Für ein System, das völlig neu und besser sein will, braucht es auch völlig neue und konstruktivere Ansätze.
Generalamnestie bedeutet nicht, dass es keine Konsequenzen gibt
Dennoch empfinden es viele Menschen als ungerecht, dass die (in ihren Augen) Schuldigen, die für die Ereignisse im Rahmen der Corona-Krise verantwortlich sind, ohne Konsequenzen davonkommen. Dies ist jedoch ein Irrtum: Generalamnestie bedeutet nur, dass die Schuldigen nicht von der Justiz bestraft werden. Aber sie werden mit Sicherheit mit großen Konsequenzen rechnen müssen.
Sie werden alle ihre Privilegien verlieren und nie wieder wichtige Positionen einnehmen können, da sie sich als unfähig erwiesen haben, Verantwortung zu übernehmen und vertrauenswürdig zu sein. Auch wenn ihnen kein Schaden zugefügt wird, lässt sich natürlich niemandem vorschreiben, wie er auf der zwischenmenschlichen Ebene mit den Betreffenden umgeht. Anstelle einer Bestrafung erhalten sie die Möglichkeit, ihre Schuld so weit wie möglich zu kompensieren, auch wenn eine vollständige Kompensation aufgrund des Ausmaßes der Schuld ggf. unmöglich ist. Diese Kompensation beinhaltet nicht nur, ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu sein. Sie bedeutet auch die Mitarbeit bei der Aufarbeitung all dessen, was geschehen ist, insbesondere der Dinge hinter verschlossenen Türen. Denn wir müssen die Geschehnisse vollständig verstehen, um genügend Bewusstsein zu schaffen, damit sie sich nicht wiederholen. Und wer könnte besser Auskunft über diese Geschehnisse geben als Insider? Wenn sie mit diesen Bedingungen nicht einverstanden sind, können sie als Geächtete ihrer Wege gehen und die Gesellschaft kümmert sich nicht mehr um sie.
Selbst bei einer Generalamnestie werden die Folgen für die Verantwortlichen also enorm sein, aber sie sind konstruktiver und wirksamer als die Verschwendung von Ressourcen, um sie im Gefängnis durchzufüttern. Und erst recht, als die Zivilisation und Menschlichkeit dahingehend aufzugeben, ihnen noch Schlimmeres anzutun. Der Verlust von Privilegien in Form von Reichtum und Macht dürfte ohnehin eine Art „Strafe“, da es sich bei den Schuldigen in der Regel um Menschen handelt, die diese Privilegien genießen. Möglicherweise findet auf längere Sicht eine geistige Weiterentwicklung der Betroffenen statt mit der Erkenntnis, dass humanistische Ideale höhere anzustrebende Ziele sind als Egoismen wie Macht und Reichtum. Das wäre sicherlich die erstrebenwerteste Entwicklung, wie realistisch sie bei den Betreffenden ist, kann ich allerdings nicht sagen.
Obwohl ich also die negativen Gefühle vieler Ungeimpfter gegenüber den Schuldigen der Corona-Krise durchaus nachvollziehen kann, überwiegen aus meiner Sicht die Vorteile einer Generalamnestie deutlich die Probleme, die mit einer geplanten oder durchgeführten gerichtlichen Bestrafung einhergehen. Nicht nur aus einer konstruktiven und pragmatischen, sondern auch aus einer humanistischen Perspektive heraus.
Peter Müller