Gibt es einen „Vollkswillen“ („Volonté Générale“)?
Im „Gesellschaftsvertrag“, 3. Kapitel, unter der Überschrift „Ob der allgemeine Wille irren kann“, findet sich bei Rousseau folgender Absatz, Zitat:
„Oft ist ein großer Unterschied zwischen dem Willen aller und dem allgemeinen Willen; letzterer geht nur auf das allgemeine Beste aus, ersterer auf das Privatinteresse und ist nur eine Summe einzelner Willensmeinungen. Zieht man nun von diesen Willensmeinungen das Mehr und Minder, das sich gegenseitig aufhebt, ab, so bleibt die Differenzsumme der allgemeine Wille übrig.“
Aber dies schrieb er unter folgendem Zusammenhang, Zitat:
„Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, dass der allgemeine Wille beständig der richtige ist und immer auf das allgemeine Beste abzielt; daraus folgt jedoch nicht, dass Volksbeschlüsse immer gleich richtig sind. Man will stets sein Bestes, sieht jedoch nicht immer ein, worin es besteht. Das Volk lässt sich nie bestechen, wohl aber oft hinter das Licht führen, und nur dann scheint es Böses zu wollen.“ (Unterstreichung von mir)
Es geht also um Volksbeschlüsse und das Finden gemeinsamer Interessen und für einen jeweiligen Volksbeschluss um ein gemeinsames Interesse für ein entsprechendes Gesetz. Natürlich kann ich hier nicht das gesamte Werk von Rousseau zitieren, aber ich empfehle es selbst zu lesen.
In der politischen Praxis wird mit dem so genannten „Volkswillen“ („volonté générale“) oft auf populistischer Weise versucht, die Diktatur der Herrschenden zu legitimieren und so zu tun, als ginge alle Macht vom „Volke“ aus, aber in Repräsentativ-Systemen triumphieren Privatinteressen Einzelner, über den Rest der Gesellschaft.
Die populistische Annahme eines einzigen allgemeinen „Volkswillens“ kann es nicht geben, weil er in unterschiedlichste Interessen zerfällt, aber es ist möglich Kompromisse auszuhandeln.
Rousseau schrieb weiter:
„Das Volk lässt sich nie bestechen, wohl aber oft hinter das Licht führen, und nur dann scheint es Böses zu wollen.“
Wenn er heute sehen könnte, wie oft das „Volk“ schon hinters Licht geführt und sogar bestochen wurde, vielleicht hätte er einige Aussagen noch einmal überdacht.
Der „volonté générale“ (Volkswille) wurde unter der Herrschaft der Jakobiner in der französischen Revolution von 1789 bis 1793 und dessen Führer Robespierre an die Stelle des „Konsens“ gesetzt. Die Rechtsprechung erfolgte unter dieser Herrschaft nicht mehr im Namen der Republik, sondern im Namen des Volkes. Das Wort „Volkswille“ schließt aber die vielfältigen Prozesse des Meinungsaustausches, des Hörens und des Gehört Werdens aus. Die Behauptung, dass es einen „Volkswillen“ gibt, wird in der Regel von jemanden aufgestellt, der ihn gegen jeden Widerspruch, in absoluter Weise und mit allen Mitteln durchzusetzen gedenkt. Natürlich sind dann alle Andersdenkenden als Feinde des „Volkes“ zu diffamieren, weil sie es wagen, dem „Volkswillen“ zu widersprechen. Dies erzeugt automatisch eine Diktatur dieses von wem auch immer verorteten „Volkswillens“ und vernichtet jeden zu „Konsens“ fähigen Ansatz.
Wie oft berufen sich auch heute Politiker und deren Agitatoren in populistischer Weise auf eine imaginäre „öffentliche Meinung“, um jede Kritik an ihrem Handeln als gegen den „Volkswillen“ gerichtet zu kennzeichnen? Bei der „öffentlichen Meinung“ verweist man natürlich auf den „volonté générale“ (Volkswillen), aber eben nicht auf eine Meinung, auf die sich viele in einer öffentlichen und demokratischen Debatte geeinigt haben.
(Fortsetzung in der nächsten Ausgabe)
J.M.Hackbarth
Ein Kommentar