
Gibt es einen „Vollkswillen“ („Volonté Générale“)?
(Fortsetzung aus 02/25)
Eine unter Umständen lang andauernde Einigung eines Staatsvolkes, die meistens schriftlich in Verfassungen, Gesetzen oder Beschlüssen dokumentiert wird, hat nichts mit einem imaginären und oft nur behaupteten „Willen des Volkes“ zu tun, der von Inhabern der staatlichen Gewalt von Zeit zu Zeit benutzt wird, um deren unliebsame Entscheidungen gegen Widerstände einen legitimen Anschein zu geben.
Die jüngsten Beispiele von so genannten allgemeinen Verfügungen in geschaffenen, oder einfach verkündeten „Ausnahmezuständen“, zeigen sehr anschaulich den dahinter liegenden Mechanismus der Selbstermächtigung der Herrschenden, die sich natürlich immer auf einen sie legitimierenden „volonté générale“ (Volkswillen) berufen.
Diesen so genannten und beschworenen „Volkswillen“, benutzte auch Napoleon der III. (Louis Napoléon Bonaparte) 1851, als er sich auf der Basis einer „Volksabstimmung“, selbst zum König machte und damit seine zwanzig Jahre andauernde Diktatur errichtete. Diesen Mechanismus benutzten auch spätere Diktatoren, die mit Hilfe einer „Volkswahl“ den absoluten „Volkswillen“ ermittelten, um anschließend einen absolutistischen Staat mit einem Diktator an dessen Spitze zu errichten.
„Man könnte die Verfassungsgeschichte Frankreichs, wo noch in den Revolutionsjahren eine Verfassung auf die andere folgte, während die Machthaber außerstande waren, auch nur ein Minimum der unzähligen revolutionären Gesetze und Verordnungen durchzusetzen, als eine nicht abreißen wollende Kette von Demonstrationen zitieren, die immer wieder bewiesen, was ja eigentlich von Anfang an hätte klar sein müssen, dass nämlich der sogenannte Wille eines Kollektivs (wenn man darunter mehr als eine legale Fiktion versteht) sich von Tag zu Tag, ja von Minute zu Minute ändert, und dass ein Gebilde, das man auf dem Nationalwillen errichtet, auf Sand gebaut ist. Das Einzige, was die auf der volonté gérérale gegründeten Nationalstaaten immer wieder vor dem unmittelbaren Zusammenbruch rettet, ist die phantastische Leichtigkeit, mit der jeder, der Lust auf die Last und Glorie der Diktatur hat, diesen sogenannten Nationalwillen manipulieren und sich unterwerfen kann. Die Diktatur ist die Regierungsform, die dem Nationalstaat gleichsam auf den Leib geschrieben ist, und Napoleon Bonaparte war nur der erste und ist immer noch einer der größten unter den nationalen Diktatoren, der unter dem Beifall der gesamten Nation erklären konnte: »Je suis le pouvoir constituant«. Jedoch bedurfte es des Diktats des Willens eines Mannes, in dem sich die nationalstaatliche Fiktion eines einmütigen Volkswillens verkörpern konnte, immer nur in Krisenzeiten; es war nicht der Wille, sondern das Interesse, die solide Struktur der Klassengesellschaft, die dem Nationalstaat sein eigentliches Fundament verlieh. Und dieses Interesse – das intérêt du corps , mit den Worten Sieyès’, durch das nicht der Bürger, sondern der Privatmensch »sich mit anderen Privatmenschen zusammenfindet« – war niemals eine Äußerung des Willens, sondern eine weltliche Gegebenheit bzw. die Manifestation der jeweiligen Weltteile, die bestimmte Gruppen, Corps oder Klassen, gemeinsam hatten, weil sie sie zusammen bewohnten oder besaßen.“ (Hanna Arendt, „Über die Revolution“, Seite 230)
Aus diesem Grunde kann man gerade angesichts aktueller politischer Krisen den Begriff des „volonté générale“ nicht nur oberflächlich streifen und sollte wenigstens die verschiedenen Auswüchse der Geschichte etwas näher betrachten. Nicht zuletzt die Auswüchse der Volksgerichtshöfe eines so genannten „3. Deutschen Reiches“, die ebenfalls vorgaben einen „Volkswillen“ durchzusetzen.
Ein Plebiszit (die Volksabstimmung, die Volksbefragung, usw.) werden gerade wieder sehr populär in der demokratisch gesinnten Bevölkerung und entsprechenden Vereinigungen – auch unter dem Sammelbergiff „Direkte Demokratie“ bekannt. Bei aller Gutwilligkeit dies zu fordern, werden die versteckten Haken daran meistens übersehen.
Diese versteckten Haken liegen meist nicht im Volk selbst, sondern werden durch das Repräsentativsystem verschleiert. Die Repräsentanten bestimmen die Fragen beim Plebiszit und nicht das Volk. Dadurch ist es für die Machthaber sehr einfach, den Ausgang einer Volksabstimmung ganz nach Wunsch ihrer heiß ersehnten Legitimation zu steuern und natürlich mit Hilfe ihrer Massenmedien manipulativ zu beeinflussen. Die dann so einmal gewonnene Macht per „Volksabstimmung“, lässt sich bis zur nächsten Abstimmung, wenn nötig immer wieder mit Hilfe von Ausnahmezuständen verlängern.
Die Volksabstimmungen, die Volksbefragungen, also die so genannte „direkte Demokratie“, ist ein scheinbar harmloses Mittel, um Forderungen nach einem Staat souveräner Bürger, die ihre Verfassungs- und Gesetzgebung als organisierter „Demos“ selbst in ihre Hände nehmen möchten, also eine wirkliche „Demo-Kratie“ errichten wollen, so umzulenken, dass sie wieder in einer populistischen Diktatur enden.
Jede Forderung danach, die Gesetzesinitiative, die Verfassungs- und die Gesetzgebung den nach Souveränität strebenden Aktiv-Bürgern zu übertragen, wird immer wieder dadurch verhindert, dass man den „Populus“ (das unorganisierte und politisch desinformierte Volk), für ein „Plebiszit“ (eine Volksabstimmung) gegen den politisch aktiven und organisierten Demos mobilisiert und über Fragen abstimmen lässt, welche die Herrschenden bestimmen und die ihre bisherige Macht nicht gefährden. Dazu verhilft ihnen das sehr beschränkte „Initiativrecht“ welche sie nie dem „Populus“ (dem Volk) überlassen und so alle ihre Manipulationsmöglichkeiten ausnutzen können.
Alle Repräsentativsysteme basieren auf einem behaupteten „Volkswillen“, der sich angeblich durch Wahlen des „Populus“ (Populismus), also durch Wahlen der überwiegend politisch passiven und relativ ungebildeten Volksmassen, die genau deswegen leicht zu manipulieren sind, ermitteln lässt. Der Populismus „unserer angeblichen Repräsentanten“, stützt sich also auf eine angebliche Mehrheit des „Populus“ (des Volkes) und nicht auf eine Mehrheit der politisch aktiven Bürger. „Unsere Repräsentanten“ benutzt diese leicht manipulierbare Volksmasse eines „Populus“ für ihr Wahlsystem und zur Errichtung ihrer fast absoluten Macht bis zur nächsten Wahl. Natürlich interessiert diese Machtinhaber die Meinung des „Populus“ (ihres Wahlvolkes) bis zur nächsten Wahl kaum, weil einmal gewählt, ist der Populus wieder machtlos.
Dazu ein Rechenbeispiel:
1.Von den ca. 61,18 Millionen Bürgern die sich 2021 aus dem Populus heraus an der Wahl beteiligen durften (nicht alle ca. 83,2 Millionen Einwohner und Steuerzahler dieses Landes sind Wahlberechtigt), haben sich 76,6% (ca. 46,86 Millionen Bürger) an der Bundestagswahl beteiligt. Das sind ca. 56,32% der Einwohner von Deutschland, die sich an der Wahl beteiligt haben, weil sie es konnten.
Dazu ist anzumerken, dass auch 129.000 „Auslands-Deutsche“ 2021 an der Bundestagswahl teilgenommen haben, die nicht zu den Einwohnern von Deutschland zählen und da sich diese Zahl in nur 8 Jahren verdoppelt hat, ist das wohl weiter zu beobachten.
2. Es waren also 2021 ca. 61,18 Millionen Bürger von ca. 83,2 Millionen Einwohnern wahlberechtigt in Deutschlands und die Zahl der Wahlberechtigten ist seit dem Jahre 2009 (ca. 62,17 Millionen) um ca. 1 Million Wahlberechtigte gesunken, obwohl die Zahl der Einwohner im gleichen Zeitraum von 2009 = ca. 81,9 Millionen, um ca. 1,3 Millionen Einwohner gestiegen ist. Asylsuchende zählen in Deutschland auch zu den Einwohnern.
3. Von den ca. 46,86 Millionen Bürgern die sich an der Bundestagswahl beteiligt haben, wählten 25,7% (= ca. 12 Millionen Bürger) die SPD, 14,8% (= ca. 7 Millionen Bürger) die GRÜNEN und 11,5% (= ca. 5,4 Millionen Bürger) die FDP. Das sind insgesamt 52% der teilgenommenen Wähler, aber nur ca. 24,4 Millionen der Einwohner Deutschlands, die überwiegen zum Populus zählenden, aber nur ca. 39,9% der ca. 61,18 Millionen Wahlberechtigten, weil 23,4% des überwiegend unorganisierten und unpolitischen Populus noch nicht einmal an einem Wahltag direkt ihre politischen Interessen interessiert veteidigen möchten, womit die gegenwärtigen Machthaber sehr gut zurecht kommen.
Die „Ampel-Regierung“ generierte mit Hilfe des geltenden Repräsentationssystems, die fast alle Wahlversprechen gebrochen hat und die wie ganz selbstverständlich nach der Wahl auf die Interessen ihrer 24,4 Millionen Wähler keine Rücksicht genommen hat, eine relativ diktatorische Macht über die ca. 83,2 Millionen Einwohner Deutschlands. Sie rechtfertigten ihre nicht ganz vollkommene Diktatur mit dem „Willen des Wahlvolkes“ an nur einem Wahltag, an dem ihre Wähler aber nur schwer erahnen konnten, was die durch sie gewählten Repräsentanten (ihre Vormünder), mit der ihnen dann fast bedingungslos verliehenen Macht anstellen werden.
Ein überwiegend politisch unorganisierter und schlecht informierter „Populus“, wählte also auch 2021 wieder einmal Wahlprogramme von Parteien die Personen aufstellten, die gar nicht an diese Wahlprogramme gebunden sind, weil sie an nichts gebunden sind, außer an ihrem Gewissen. Das macht Wahlprogramme faktisch bedeutungslos und das könnte nur durch die Einführung imperativer (befehlender) Mandate beendet werden, wie sie bereits Immanuel Kant seiner Zeit gefordert hatte. Das befehlende Mandat würden ein Wahlvolk sofort zu einem souveränen Staatsvolk machen und sein Dasein zwischen den Wahlen als „betreute und unmündige Bürger“ schlagartig beenden. Genau deswegen ist das „imperative Mandat“ im Repräsentationssystem „verboten“ und Vorschläge in diese Richtung werden mit Hilfe eines Geheimdienstes, der angeblich „die Verfassung“ schützt, die sie eufemistisch ihre „Freiheitliche demokratische Grundordnung“ (FDGO) nennen, was aber nur den diktatorischen Erhalt des gegenwärtigen Machtsystems zur Folge hat, verfolgt und unterdrückt.
Die Polizeibeamten der letzten zwei Bundesregierungen, mussten die Corona-Proteste gewaltsam unterdrücken und alle Protestparteien die nicht mindestens 5% des populistischen Wahlvolkes in einem politisch ungleichen Wahl-“Kampf“ für sich gewinnen konnten, fanden bei der Machtvergabe 2021 keine Berücksichtigung. Die 8,7% der Stimmen welche für die Beteiligung „Sonstiger Parteien“ an der legislativen Macht abgegeben wurden (= ca. 4 Millionen Bürger), fanden gar keine Berücksichtigung und es gibt von Seiten der Herrschenden auch keinerlei Versuche der Kommunikation mit diesen, oder deren „Minderheiten-Rechte“ irgendwie zu berücksichtigen.
Die „Rechte“ oppositioneller Minderheiten, opfern die jetzigen Machthaber gerne einem populistisch verorteten Volkswillen und bezeichnen Oppositionelle schon fast generell als „Volksfeinde“, „Blinddärme“, „Feinde ihrer Demokratie“, „gesichert extremistisch“, „Delegitimierer“ und vieles mehr. Das ist Populismus in Reinform, weil dieser immer einen Feind des „Volkswillens“ benötigt, gegen den er den Populus zu dessen Jagt mobilisieren kann. Darum lehnen Populisten jede politische Auseinandersetzung mit Menschen ab, die mit ihnen einen Kompromiss suchen, weil dadurch ihre politische Macht begrenzt würde. Populisten bestehen auf ihrer Vormacht und Kompromisse, also eine Teilung ihrer Macht, dulden sie notfalls nur mit anderen Populisten, welche jede echte Herrschaft eines souveränen Staatsvolkes bekämpfen.
Wegen mehrfach durch Gerichte festgestellten Wahlbetruges in Deutschland, bei seinen „geheimen“ Wahlen, möchte ich noch einmal auf Jean-Jacques Rousseau verweisen:
„Die Stimmeneinsammlung war bei den Römern in der ersten Zeit war ebenso einfach wie ihre Sitten, wenn auch nicht ganz so einfach wie in Sparta. Jeder gab seine Stimme laut ab, während ein Schreiber sie der Reihe nach aufschrieb (…) Diese Sitte war gut, solange noch Redlichkeit unter den Staatsbürgern herrschte und jeder sich schämte, öffentlich für eine ungerechte Sache oder einen ungerechten Menschen zu stimmen; als das Volk jedoch verdorben war und man die Stimmen kaufte, zog man geheime Abstimmungen vor, um die Käufer in Misstrauen zu halten und den Betrügern zu ermöglichen, nicht als Verräter zu erscheinen.“ (Jean Jacues Rousseau „Der Gesellschaftsvertrag Prinzipien des politischen Rechtes“, Seite 175)
Für das ganze Ausmaß von Betrug, Frechheit und Dreistigkeit liefern „unsere und fremde Repräsentanten“ des selben Macht-Systems, in immer kürzeren Abständen immer neue Beispiele. Rousseau hätte sich zu seiner Zeit ganz sicher nicht träumen lassen, wozu seine unbedachten Worte benutzt werden, weil er Volksvertreter strikt ablehnte. Zitat:
„Die Staatshoheit kann aus demselben Grunde, die ihre Veräußerung unstatthaft macht, auch nicht vertreten werden; sie besteht wesentlich im allgemeinen Willen, und der Wille lässt sich nicht vertreten; er bleibt derselbe oder er ist ein anderer; ein mittleres kann nicht stattfinden. Die Abgeordneten des Volkes sind also nicht seine Vertreter und können es gar nicht sein; sie sind nur seine Bevollmächtigten und dürfen nichts beschließen. Jedes Gesetz, das das Volk nicht persönlich bestätigt hat, ist null und nichtig; es ist kein Gesetz. Das englische Volk wähnt frei zu sein; es täuscht sich außerordentlich; nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder ist es frei; haben diese stattgefunden, dann lebt es wieder in Knechtschaft, ist es nichts. Die Anwendung, die es in den kurzen Augenblicken seiner Freiheit von ihr macht, verdient auch wahrlich, dass es sie wieder verliert. Der Gedanke der Stellvertretung gehört der neueren Zeit an. Die Vertretung ist der Ausfluss jener unbilligen und sinnlosen Regierungsform der Feudalzeit, in der die Menschenwürde herabgewürdigt und der Name Mensch geschändet wird.“ (Jean Jacues Rousseau „Der Gesellschaftsvertrag Prinzipien des politischen Rechtes“, Seite 140)
Ja seine Theorie hatte Schwächen, welche durch Repräsentanten gerne benutzt werden und natürlich würden sie am liebsten den zitierten Absatz schwärzen, könnten sie sämtlicher Exemplare seines Werkes habhaft werden.
Sehr gern wurde auch von den Herrschenden Rousseau seine Konstruktion einer fiktiven Nation als über ethnische Zwangsgemeinschaft und der daraus resultierende Nationalismus angenommen, der für seinen Zusammenhalt und als Motor immer einen äußeren Feind als Bedrohung benötigt. Der oft erst als Fiktion dargestellte Feind einer Nation, der dann im Laufe der Zeit immer konkretere Formen annimmt, was die systematische Militarisierung einer Nation durch Kriegspropaganda ermöglicht, kam der herrschenden sozialen Klasse der reichsten Eigentümer sehr gut zupass, weeil sie diese sehr gut für die Ausweitung ihres Konkurrenzkampfes durch Eroberungskriege nutzen können.
Der „Volkswille“ einer Nation setzt stillschweigend die Existenz eines äußeren und inneren Feindes voraus, den es ständig zu bekämpfen und zu vertilgen gilt. Wer also einen fiktiven „Volkswillen“ proklamiert, möchte die Jagd auf die äußeren und inneren Volksfeinde eröffnen, was Hannah Arendt sehr detailliert analysierte. Zitat:
„Rousseaus Theorien kamen den Männern der Französischen Revolution so außerordentlich gelegen, weil er anscheinend ein höchst ingeniöses Mittel gefunden hatte, eine Vielzahl von Menschen an den Platz zu stellen, der bisher von einer einzigen Person ausgefüllt worden war; denn der Allgemeine Wille war nichts mehr und nichts weniger, als was die Vielen in eine Einheit zusammenbinden sollte. Für diese Konstruktion einer vielköpfigen Einheit bediente sich Rousseau eines verführerisch einfachen und einleuchtenden Beispiels. Er ging von der bekannten Erfahrung aus, dass zwei einander widerstreitende Interessen einmütig werden, sobald sie mit einem dritten Interesse konfrontiert sind, das sie beide gleicherweise bekämpft. Politisch gesprochen, setzte er stillschweigend die Existenz eines auswärtigen Feindes voraus, vor dem ja auch alle Interessenkämpfe im Innern der Nation dahin fallen und dem gegenüber die Nation einmütig wird. Nur unter der Voraussetzung unmittelbarer außenpolitischer Gefährdung kann es überhaupt so etwas wie »la nation une et indivisible«, das Ideal des französischen und allen sonstigen Nationalismus, geben. Darum kann sich die nationale Einheit nur in Fragen der Außenpolitik realisieren, und selbst da nur unter der Voraussetzung einer zumindest potentiellen Feindschaft. Auf dieser Binsenwahrheit beruht im Grunde die gesamte nationale Politik, wie wir sie aus dem neunzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert kennen, und sie folgt so offensichtlich aus der Theorie von einem Allgemeinen Willen, der die Nation beseelen müsse, dass Saint-Just bereits mit ihr völlig vertraut war: Nur außenpolitische Angelegenheiten könnten überhaupt eigentlich »politische« genannt werden, während das übrige Gebiet menschlicher Beziehungen unter das »Gesellschaftliche« fiele. (»Seules les affaires étrangères relevaient de la ›politique‹, tandis que les rapports humains formaient ›le social‹.«) Rousseau selbst aber ging einen Schritt weiter. Ihm genügte der äußere Feind als das die Nation einigende Prinzip nicht, er wollte, dass die Einheit und Einmütigkeit aus der Nation selbst aufsteige und so auch in der Innenpolitik wirksam werde. Das hieß aber, dass er den gemeinsamen Feind, der die Vielen in ein Eines zwingt, im Lande selbst entdecken musste, und seine Lösung dieses Problems besagte, dass der allen gemeinsame Feind im Innersten jedes Bürgers existiere als dessen Einzelwille und Eigeninteresse. Der, wenn man so sagen will, Trick dieser Lösung besteht darin, dass dieser verborgene, innere Feind in der Brust jedes Einzelnen – der ja offensichtlich das gerade Gegenteil des ursprünglich gemeinten allen gemeinsamen Feindes ist – zum Rang eines die Nation von innen vereinigenden Prinzips aufsteigen Übereinstimmung zweier besonderer Interessen«, sagt Rousseau, indem er zustimmend den Marquis d’Argenson zitiert, »geht aus dem Gegensatz gegen ein drittes hervor. Er [d. h. d’Argenson] hätte noch hinzufügen können, dass die Übereinstimmung aller Interessen die Folge des Gegensatzes derselben gegen das eines jeden einzelnen ist. Gäbe es keine verschiedenen Interessen, so würde man das gemeinschaftliche, da es nie Hindernisse fände, kaum wahrnehmen. Alles würde ganz von selbst gehen, und die Politik würde aufhören, eine Kunst zu sein.« Dem Leser mag die merkwürdige Gleichsetzung von Wille und Interesse in dem Vorhergehenden aufgefallen sein, die das nie ausdrückliche theoretische Fundament der politischen Lehren Rousseaus bildet. Er braucht die beiden Worte durch den ganzen Contrat Social hindurch synonym, und er setzt stillschweigend voraus, dass der Wille nichts anderes ist als die gleichsam automatische Artikulierung eines Interesses. Daraus folgt für Rousseau, dass der Allgemeinwille eben die Artikulierung des Gesamtinteresses ist, des Interesses des Volkes oder der Nation im ganzen, und da dieses Interesse oder dieser Wille allgemein sind, können sie nur dadurch hervorgerufen werden, dass Einzelinteressen und Eigenwillen ihnen feindlich entgegenstehen. In der Rousseau,schen Konstruktion braucht die Nation nicht mehr auf den Feind zu warten, der die Landesgrenzen bedroht, um sich »wie ein Mann« zu erheben und die »union sacrée« zu vollziehen; die Einheit der Nation ist dadurch garantiert, dass jeder Bürger den Landesfeind in seiner eigenen Brust trägt und mit ihm auch das Allgemeininteresse, das nur der gemeinsame Feind wecken kann. Denn der allen gemeinsame Feind ist das Einzelinteresse und der Eigenwille eines jeden. Nur wenn jeder Einzelne sich selbst in seiner Vereinzelung den Krieg erklärt, kann er in die Lage kommen, in sich selbst seinen eigenen Feind zu erzeugen, und dieser Feind jedes Einzelnen als Einzelnen ist der Allgemeinwille; wenn ihm dies gelingt, ist er ein wirklicher und verlässlicher Bürger des Nationalstaats geworden. Denn »zieht man nun von diesen Willensäußerungen das Mehr und Minder, das sich gegenseitig aufhebt, ab, so bleibt als Differenzsumme der Allgemeinwille übrig«. Um der politischen Gemeinschaft der Nation anzugehören, muss der Bürger imstande sein, in einer ständigen Rebellion gegen sich selbst und seine eigenen Interessen zu leben. Das Mitleiden mit anderen, das dem eigenen Interesse ja durchaus entgegensteht, ist gleichsam die seelische Stimmung, in der sich diese Rebellion gegen sich selbst und das Einschwingen in den Allgemeinwillen am einfachsten und natürlichsten realisieren lässt. Nun hat es natürlich keinen nationalen Staatsmann gegeben, der Rousseau je auf diesem Wege ins logisch Extreme gefolgt wäre, und wenn die gängigen nationalistischen Begriffe des Staatsbürgers auch weitgehend von der Voraussetzung des Landesfeindes ausgehen und auf ihr beruhen, so hat doch niemand je ausdrücklich gesagt, der allen gemeinsame Feind sitze in der eigenen Brust und jeder Bürger sei, sofern er ja notwendigerweise auch ein Einzelner ist, bereits ein potentieller Verräter. Anders aber steht es mit den Revolutionären und der revolutionären Tradition. Nicht nur in der Französischen Revolution, sondern in allen Revolutionen, die ihrem Beispiel folgten, erscheint das Einzelinteresse als eine Art gemeinsamer Feind, und die Terrortheorien von Robespierre bis Lenin und Stalin nehmen alle als selbstverständlich an, dass das Gesamtinteresse automatisch und ständig in Feindschaft liege mit dem Eigeninteresse jedes einzelnen Bürgers.“ (Hanna Arendt, „Über die Revolution“, Seite 100 – 105)
Mir erscheint die Namensliste der „Kollektivisten“ (sie erwähnt dieses Wort bei der Gelegenheit nicht), in dessen Kollektiven oder die jeweilige Nation, Organisation, usw. ein „Alles“ und der Einzelne ein „Nichts“ ist, sehr unvollständig. Kriegstreiber vordern die Mitglieder ihrer Nation, ihrer Organisation, usw. doch immer dazu auf, ganz selbstlos persönliche Opfer zu erbringen und ohne zu zögern das eigene Leben für die Nation (das Kollektiv) hin zu geben. Wer dabei auch nur zögert, eine verdächtige Frage stellt, oder Bemerkung macht, ist ein Volks-Feind, was unmittelbare Konsequenzen verlangt.
In einer Demokratie kann es nur einen Konsens eines Demos (einer politisch selbst verwalteten Gemeinde) zu Fragen des Gemeinwesens geben und nicht privater Natur sind. Dies gilt natürlich auch in einer Föderation, der man nur freiwillig angehört. Wird der jeweilige Konsens in Frage gestellt, oder aufgekündigt, muss neu verhandelt werden.
Die Behauptung eines imaginären Volkswillens, muss immer sofort zurückgewiesen werden, oder die eigene Freiheit endet an diesem Punkt.
J.M.Hackbarth