Kunst, Freiheit, Unfreiheit, Demokratie und Despotismus. Ein Rundgang um die Welt

Fotomontage: Die ‚Retreatants‘ von Portinari und die ‚Hungergeographie‘ von Josué de Castro(Museu de Arte de Sao Paulo, Brasil) + Bachiana Brasileira Nº 2 de Villa – Lobos. Trenzinho Caipira.
[Der Aufstand 07/24, Seite 13]

Museen Besuch und Karneval in Brasilien.

Kunst, Freiheit, Unfreiheit, Demokratie und Despotismus. Ein Rundgang um die Welt.

– Moral versus Ethik und was Kunst und Ästhetik damit zu tun haben.

Um dieses Thema, das umfassend die Einstellungen zur Kunst und ihre Rolle und Wirkung im menschlichen Bewusstsein, und folglich in der Gesellschaft, im Verständnis von Freiheit und Demokratie zu besprechen und einigermassen analysieren zu können, ist es vonnöten die Differenzierung zwischen Moral und Ethik, in ihren grundlegenden Prinzipien deutlich darzustellen, und von deren Ursprung an verständlich zu machen. Moral und Ethik werden von vielen miteinander vermischt, wenn schon nicht als eins und das gleiche verstanden.

Moral definiert ein Benehmen unterhalb einer Gruppe, wie sie unter den seinigen in Verhältnis zueinander zu sein pflegten, tun und dürften, während andere als abstoßend zu empfinden wären. Die ersten Auffassungen von Moral fanden sich in der Religiösität und in religiösen Gruppierungen. Dadurch ist das uns in der westlichen Zivilisation älteste bekannte Buch, das Alte Testament, das ein moralisches Buch ist. Die ägyptische Kultur, deren Bräuche und Glaube wurde von den Hebräern, die als Sklaven davon gedient haben sollen, wird darin nicht erwähnt und es darf kein anderer Grund dafür geben dass solche monumentale Werke wie die Sphinx und die Pyramiden darin auch keine Beachtung fanden. Die Ägypter verehrten Tiere und Götter, die in einer eigenen Symbolik eine eigene Beachtung fanden und hatten andere Bräuche, die von den ursprünglichen Hebräer abgelehnt waren. Die Hebräer waren ein kleines Volk, das nach einer Periode von Versklavung – welche nur von ihnen selbst erwähnt wird und als möglicher Beweis dazu dient, eine eigene Identität fand, daraus eigene Bräuche, Ideen und auch Phantasien entwickelte. Es ist weniger bekannt, ob in Ägypten und in dessen Kasten oder sogar unter den vom Staat etwas angesehenen Bediensteten ein Mann mehrere Frauen haben könnte, oder sogar umgekehrt. Moral kann als eine Ansammlung von Bräuchen definiert werden, die Verhaltensweisen bestimmen. Dementsprechend können diese Bräuche von den einen oder von den anderen als besser oder schlechter bewertet werden.

Ein anderes Beispiel von Moral können die präkolumbischen Kulturen liefern, die zuerst Spanier und Portugiesische Conquistadores in Mittel – und Südamerika vorgefunden haben. Für uns, die in einer neuen Kultur erzogen wurden und aufwuchsen, waren sie erschreckend. Die Beschreibungen des deutschen Abenteurers Hans Staaden, einem Mann aus Homburg, der im 16. Jahrhundert sich auf portugiesische Schiffen begab und als Artillerieoffizier auf Jagd von französischen Piraten anstellen liess und schliesslich von Urwaldeinwohner der atlantischen Küste gefangen wurde, sind echt und keinesfalls Phantasien von jemandem der sich bekannt machen wollte. Staaden erlebte es, wie die Indios sich gegenseitig aufgefressen hatten, in dem Glauben, dass sie den Geist eines mutigen getöteten Feindes in sich auch aufnehmen würden. Er überlebte diesen Schicksal, dass er per Zufall als Übersetzer zuerst zwischen Portugiesen und Franzosen fungieren musste, und letztlich dass er seinen tribalen Häuptling von einer Erkrankung mit einem Gebet rettete, so seine Erzählung. Ob das Gebet es war oder nicht, hat es jedoch dazu geführt, dass er endlich auf einem französischen Schiff wieder nach Hause fahren konnte. Die Erzählungen sind so schockierend, dass der Leser davon nur noch im Bewusstsein davon erträgt, das Buch bis zum Ende zu lesen, dass er es überlebt hat, denn sonst hätte er das Buch nicht schreiben können. Und hier setzte sich auch der Leser – ob unbewusst oder nicht, mit der Idee davon, was man mit anderen tun kann oder nicht, die sich auf Ethik bezieht.

Neuere Techniken haben sich in den letzten Jahren entwickelt, die auf zivilisierte Strukturen in den Tiefen des Amazonas Urwaldes hindeuten, die möglicherweise älter als das Christentum sein sollen, also, um die zweitausendfünfhundert Jahre zurückliegen, und ob die im Wald lebenden Überreste von diesen zivilisierten Städten waren, die am Rande blieben und von Zerfall ihrer Bräuche stärkst betroffen wurden. Es ist uns in der Gegenwart klar, dass am Rande der heutigen Großstädte lebende Menschen nach unseren Auffassungen von Kriminalität aus fehlenden Bedürfnissen zu Kriminalitäts-Verhalten neigen. Dieses Kriminalitäts-Verhalten wird heute von unseren Ideen von Ethik beeinflusst, und es heißt, von dem, was wir anderen antun können oder nicht, und umgekehrt. Kants Idee des Kategorischen Imperativs ist insofern unbestreitbar und somit hat unser Verständnis von Freiheit auch Grenzen. Freiheit bedeutet nicht alles tun zu können, aber auch zu wissen, dass sie darin angrenzt, wo sie die Freiheit und Rechte des Anderen verletzt. Bis es dazu kam, dass die Philosophie diese Prinzipien erlangte, hat es dennoch Anstrengungen und Leiden zugefügt, die lange noch nicht in unserer Gesellschaft überwunden sind und in unserem Bewusstsein mit Pro’s und Contra’s noch leben. Erst die Griechen beschäftigten sich mit Ethos im Zusammenhang mit Politik, mit Sinn und Dasein, womit der Grundstein auch zur Psychologie gelegt war und dass das Ganze durch Ästhetik und Kunst in ihren verschiedensten Formen zum Ausdruck gebracht werden könnte.

Der Niedergang von Hellas durch die Unterwerfung Roms, und von einer Kultur die Anfänge der Mythen und Phantasien in der minoischen Kultur Kretas hatte, lässt sich heute noch an den lakonischen und tragischen Kunstgegenstände merken die an den Skulpturen von dieser Zeit in Museen von Athen zu besichtigen sind. Kunst als Ausdruck des Menschlichen, des Menschen, von seiner Umwelt und seinen Phantasien, ließen sich zum ersten Mal in unserer bekannten Geschichte dort als Schönheitsideal verwirklichen. Die Ethik der Griechen und derer Philosophie ließ für die Religionen und Mythen keinen Platz als der Platz der Phantasie mit der der Mensch sich mitten in heroischen Taten befand und in einer künstlichen Welt von Phantasien bewegte, von der er im Grunde wusste dass sie ihm dazu dienten, ihm seine innere Kraft zu geben und sich durch sie zu vermitteln. Er machte sich auch zu Myth und akzeptierte gleichzeitig seine Kraftlosigkeit angesichts des Kosmos, der alles umfasste und von dem er sich als ein winziges Teil verstand. Seine Geschichte und sein Leben waren in diesem Ganzen nur zu verstehen, wenn er selbst in der Lage war, das Ganze des Kosmos zu begreifen und sofern seine geistigen Kapazitäten dazu ausreichen, ihn zu “studieren” und zu analysieren. Seine Gefühle mit inbegriffen, drückte er durch Theater, Skulptur, Poesie und anfängliche Musik aus. Die Griechische Tragödie als Folge der Beschäftigung Platos mit der Liebe und mit den ersten Ideen Aristoteles über die Psyche und Pathos lieferte die Grundlage der viel späteren Renaissance, die wieder die Verbundenheit des Menschen mit der Natur und Wiederbelebung der Kunst und Schönheitsideale zustande brachte.

Die Ideale von Ethik die innerhalb von fast drei Jahrtausenden mit unermesslichen Leiden und Unterdrückung seitens verschiedener hierarchischer Machtstrukturen erlangt und gedacht wurden standen wegen der dünnen Luft die sie die meisten Menschen atmen lassen stets unter der Gefahr der Vernichtung. Der Grund dafür ist, dass die Mehrheit der Menschen nicht begreift, wie dünn diese Luft ist, und andererseits, dass dieses Unverständnis auch nützlich für diese Machtverhältnisse sein kann, wenn dieses Unverständnis zu gewünschten Freiheitseinschränkungen führen kann. Somit kann jemand, der gegen seine Freiheitseinschränkung protestiert, auch nützlich für solche Machtstrukturen werden, und sie kann es bewusst in mehreren Nischen des Denkens eingesetzt werden. Die Kunst kann in diesen Zusammenhang mit einbezogen werden, und sie ist folglich mit einbezogen, womit sie dem Zerfall, der Dekadenz und Ausnutzung ausgeliefert wird. Das Missverständnis zwischen Moral und Ethik ist ebenfalls nützlich.

Nur die Kunst kann sich mit Ironie gegenüber der Verwechslung von Moral und Ethik äußern.

Eine Runde um die Welt. Wie kann Kunst aufgefasst werden?

Kunst kann benutzt werden, um Interessen zu verteidigen. Sie betrifft uns alle. Wenn Kunst Grenzen hat, stimmt etwas nicht. Aber warum darf das so aufgefasst werden? Weil Kunst mit Bräuchen zu tun hat, die in verschiedenen kulturellen Umgebungen aus der Inbrunst der Menschen kommt. Sie kann beschreibend sein, erzählerisch, malerisch, phantasierend und auch kritisch und sich in vielerlei Formen und Gestalt ausdrücken. Darin lässt sich nichts bestimmen. Von philosophischem Standpunkt her gesehen, hat es mit Ästhetik und Ethik zu tun, da sie durch das Wecken von Emotionen die Psyche der Menschen antastet, und hier ist es, wo manchmal auch die Freiheit einen Bogen um die Ethik machen kann. Prinzipien sind oft etwas Persönliches, das ein Künstler verwendet, je nachdem, was seine Lektüre der Welt ist; wie er sie also empfindet. Demnach können Viele Definitionen von Kunst geben, wie auch die kompromisslose Kunst. Eine persönliche Einstellung die hier von mir erwähnt wird, ist die von meinem gleichnamigen Autor, in “A Nova Estética” (Die Neue Ästhetik), ein kleines Buch das von dessen Vater in Zeiten der Militärdiktatur in Brasilien (1964 – 1984) aufgefasst wurde: “ Kunst ist eine Ansicht der Welt durch ein liebendes Temperament”. Nun, der Mensch kann jedes Gefühl in der Kunst ausdrücken, aber hinter diesem Gefühl ist stets das Gefühl der Liebe zu einem “Objekt”, auch wenn im Vordergrund Schrecken und Lässigkeit stehen, wie auch Leiden und Anstrengung unerreichbarer Ideale. Darin ist auch Glaube oder Naturwissenschaft. Es kann Bewunderung, Achtsamkeit, Verwunderung, Revolte ausdrücken und vieles mehr. Es ergeht aber aus einem Gefühl der Liebe zu „etwas“, es seien Menschen, Tiere, Natur oder Legenden wiederrum.

Die Romantik hatte im tiefsten Sinne, dass der Mensch sich nach etwas sehnt, was unerreichbar ist, eine Suche nach unerreichbaren Idealen. Die Klassik sah in der Welt eine ideale Natur, die der Mensch als unvollkommenes Wesen von außen betrachtete, als die Romantik der Mensch im Wirrwarr der Geschehnisse und mitten im unkontrollierbaren Schicksal darin mit einschloss. Der Impressionismus vermittelte den Eindruck, dass vielleicht vieles surreal sein kann, und die Moderne drückte die Empörung des Schreckens nach den Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Postmoderne drückte zum ersten Mal eine Verachtung der Gefühle, und hiermit sollte man sich beschäftigen.

Zwei Museen Besuche und die Beobachtung eines Volksfestes.

Während des Besuchs eines Freundes in Brasilien, bestand ich darauf, zwei Kunstmuseen zu besuchen.

Poty Lazzarotto

Im ersten, das nach dem Architekten Oscar Niemeyer, der die Hauptstadt Brasilia entwarf*, und in der Stadt Curitiba liegt, war die Dauerausstellung von Poty Lazzarotto, einem lokalen Künstler der sein Leben damit verdiente, zuerst in Rio de Janeiro einige Zeichnungen für Bücher und Romane zu entwerfen und später in seiner Heimatstadt Wandmalereien in Kachelwerk zu zeichnen.



Poty Lazzarotto
Poty Lazzarotto

Er allein stellt das Leben mit Aberwitz, Ironie zur kirchlichen und religiösen Moral. Sein Stil ist unique und wer ihn kennt, würde eine Zeichnung von Poty überall in der Welt erkennen. Er ironisiert Krieg und verspottet den menschlichen Wahn.

In einem anderen Saal waren Werke einer Künstlerin, die in Portugal lebt, und als Brasilianerin geboren wurde. Die Werke sind große erfundene Gestalten mit leuchtenden Lichtern aller Farben. Glanz und das Gefühl ermittelten, in einem außerirdischen dunklen Raum zu sein, wo alles bekannte nicht mehr existiert. Die Gültigkeit davon ist nicht in Frage, die Tiefe, die es vermittelt, wie es auf jemand wie mich wirkt, null. Den Namen der Künstlerin weis ich nicht, wollte ich auch nicht wissen. Verdient hat sie für ihre Ausstellung sicherlich nicht wenig.

In Rio de Janeiro standen mehrere Museen-Besuche auf dem Plan, den ersten davon mit Ausstellungen der Afro-Kultur und deren Einflüsse aus der Saga und Folklore. Einiges realistisch und wahrlich, anderes selbst behauptend, was eine Konsequenz aller unterdrückten Gefühle der Revolte ist. Danach das riesige Museu do Amanhâ (das Morgen-Museums), dessen Bauwerk die australische Oper in Größe und Schönheit nichts zu wünschen lässt. Es steht auf allen möglichen Internetseiten zu sehen. Der Inhalt der Ausstellung ist ein Wirrwarr von Informationen über die Herausforderungen des Planeten, und insofern interessant, auch als Warnung für Kinder und für die Zukunft. Von Kunst ist nichts drinnen, bis man begreift, dass das Museum ein Raumschiff ist, in dem eine Erde verlassen wird, die solchen globalen Herausforderungen nicht gewachsen ist. Gestiftet wurde das Museum zum guten Teil von TV Globo, eines der größten medialen Imperien des Planeten. Hierzu gilt meine Enthaltung zur “Bewertung” davon als Museum. Es ist ein Bauwerk, das die Altstadt von Rio und dessen Hafen wiederbeleben ließ, als die Reichen Brasiliens dagegen protestierten, dass solche Investitionen in dem ärmeren Viertel waren und nicht in ihren reichen Gegenden im Süden der Stadt. Solche Proteste führten später zur Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseff, Nachfolgerin von Lula, die von einer Mittelschicht in der Fußball WM ausgebuht wurde, die teure Karten zahlen konnten, während andere Millionen Menschen der Stadt zu Hause blieben und die Bewohner der Favelas die inzwischen milliardären Fußballspieler, die keine Bezug zu deren Ursprünge mehr haben, verdient erniedrigt, sehen dürften.

Auszeichnung war es doch, dass die National-Kunstgalerie, wo einige Werke tollsten Künstler Brasiliens ausgestellt sind, wie Portinari und Di Cavalcanti seit Jahren in Erneuerungen steht und die Wiedereröffnung unvorhersehbar ist. Unter Bolsonaro war für Kultur, für Geistiges sowie für die Nahrung des Körpers nichts da. Für das brasilianische Agro-Geschäft alles.

Der Anführer der Ultrarechten in Südamerika, eine Mann, dessen Name mir in jeder Kritik unwürdig ist, wird hier so bleiben. Der Mann, der in den Bundesstaat Virginia in den USA lebte, mit Trumps Gefolgschaft eng in Verbindung stand und gegen alles öffentliche predigte, aber in São Paulos beste Krankenhaus starb, das rein zufällig ein öffentliches Krankenhaus ist, drückte sich mal abfällig über den Karneval in Brasilien aus: “Der Karneval ist die Zeit wo die Menschen ihre Armut und Ignoranz feiern!” Der Spruch läuft wieder kräftig im Internet in den letzten Tagen, gegen den ich zu erwidern hatte:

– Feiern die Menschen ihre große Armut oder versuchen sie, sie zu lindern und zu vergessen? Wer mitten in einer großen Armut lebt und darin gewachsen ist, ist meist der Ignoranz anheim gegeben, denn der Mensch ist unweigerlich eine Frucht seiner Umwelt. In Rio de Janeiro, die die Stadt ist, die an den größten Problemen Brasiliens leidet, ist der Karneval eine Orgie von allen diesen Problemen, die zu einem Extasis der Betäubung geleitet wird, in dem ein sterbender Patient sein Morphium liebt, das ihm von seinen Schmerzen befreit und Erleichterung zufügt.

Ein junger Mann, den ich seit meiner persönlichen Geburt kenne, wurde vor mehreren Jahren wegen dem Erfolg in einem lokalen Jugend Klavierwettbewerb interviewt und sagte einer lokalen Zeitung: „Ich würde gerne Musik dem Volk näher bringen!” Nicht aber im Stil eines André Rieu, der zu einem Publikum spielt, das für einen Tisch mit Champagner tausend Euro bezahlt, oder wenn Konzerte auf dem Münchner Leopoldplatz stattfinden, die immer mehr an Unterhaltungsmusik erinnern, und ob die Solisten gefeierte Virtuosen sind. Es wird ebenfalls zur Unterhaltung, in der der Tiefsinn ist weg. Tiefsinn heißt Emotionen und Erkenntnis der Gefühle.

Kurzweilig hat es mal gegeben, dass es im Staatstheater von Rio de Janeiro billige Karten zu Sonnatgskonzerten am Morgen gab. Die Schlangen bildeten sich am früḧen morgen und umgaben die Häuserblöcke rings herum. Während der Konzerte war das Publikum so still und schweigend vor Angst davor, an der falschen Stelle zu klatschen, wie selten in der Philharmonie in Berlin. In solchen Konzerten nahm ich mal als Pianist in meiner Stadt teil.

Einmal wurde der “Trenzinho Caipira” von Villa-Lobos im Fernsehen gezeigt. Jeder kannte es plötzlich. Es ist die Lokomotive, die schwere Schicksale in ihren geschleppten Wagen mit sich trägt, ringend eine Tragik davon singend die eisernen Räder drängen lässt. Sie leidet und seufzt. Sie weint im Rhythmus ihres Volkes und endet irgendwann abrupt, um noch mal anzufangen. Musik, Kunst jeder Art ist ein gewisser Gegenstand von Erkenntnis und kulturellem Einfluss. Es kann auch Erleichterung, Ablenkung und Vertiefung in verschiedenen Sphären des Daseins sein. In diesem Sinne lässt es sich nicht vorbestimmen. Kunst drückt doch auch Gefühle aus, die Emotionen wecken. Ein Europäer kann sich in Trenzinho Caipira von Villa – Lobos verzaubert fühlen, wie der Caipira, der brasilianische ländliche lang redende Bauer oder der Bewohner einer Favela von Rio beim Anhören von Bach sich dahin schweben lässt. Die Umgebung bestimmt Schicksale. Sie kann doch bestimmt und manipuliert werden, die Umgebung. Zu den Emotionen, bleibt unvergesslich der Satz eines Berliner Professors mir gegenüber, vor mehreren Jahren; “Die Deutschen haben Angst vor ihren Gefühlen, nachdem die Nazis alles zugrunde richteten, was die Höhepunkte der deutschen Kunst und Philosophie zustande brachten”.

In einer Welt zu stehen, die durch Momente von Schönheit unser Dasein Lebenswert fühlen lässt, ist die Aufgabe der Kunst, und davon darf der Mensch nicht abgleiten. Wir stehen in der Welt drinnen, nicht in einem Raumschiff, das trotz aller Herausforderungen die Erde nicht verlassen soll. Wir sind in den Wagen von einer eisernen Lokomotive gezogen.

Wer führt nach Gunst und Gefallen die Lokomotive der Menschheit und die Bahnen entwirft, auf der sie läuft? Gibt es einen Lokführer und sind wir von ihm geleitet, ohne dass wir “Sapiens” unser Schicksal in der Hand haben, oder noch, haben sehr wenige das alles in der Hand, die auch unsere Gefühle leiten?

Bachiana Brasileira Nº 2 de Villa – Lobos. Trenzinho Caipira.

Noel Nascimento-FilhoStudierte Musik an der Hochschule der Künste Berlin und an der Westfälischen Hochschule für Musik der Universität Münster. Wirkte in Brasilien auch als Dozent und Kunst, Kultur und Literaturkritiker. Lebt zur Zeit in Curitiba Brasilien.

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Von Redaktion

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