Schuldkult

[Der Aufstand 44/23, Seite 17]
 Sahra Müller

Schuldkult

Da haben ja viele ein Problem mit. Was könnte man doch wieder toll deutsch sein, wenn nicht … ja, wenn nicht dieser Schatten auf der strahlend weißen Weste wäre, mittels derer wir wieder als Superdeutsche die Welt belehren möchten – was wir ja auch jetzt schon so gerne machen.

Dabei ist das Wort Schuldkult von doppelt falsch. Erstmal gibt es da keinen Kult – und zweitens auch keine Schuld. Schuld – haben jene, die an der Vernichtungsindustrie mitgewirkt haben … aber nicht ihre Enkel und Urenkel. Sippenhaft ist abgeschafft – jedenfalls in Europa. Somit wendet sich der Begriff Schuldkult gegen etwas, dass es nicht gibt – und seine Agenten möchten dies, was es nicht gibt, abschaffen – tun also nebenbei so, als gäbe es noch Sippenhaft. Was für ein Unfug – da sieht man mal, was RTL 1 – 24 so angerichtet haben.

Was man aber tragen darf – anstelle von Schuld – ist Verantwortung. Die kann eine Last sein – aber auch eine Ehre. Kein anderes Volk auf diesem Planeten hat je die komplette Wucht industrieller Fertigung auf Massenvernichtung umgemünzt – und wer in dem Land lebt, wo diese Taten geschahen, kann sie womöglich besser verstehen, erklären und über sie aufklären als jemand, der in Utah lebt.

Verantwortung zu tragen hat weniger mit Schuld zu tun, als mit Anstand – es kann sogar eine besondere Ehre sein. Ich meine aber zu merken: vielen ist das Tragen von Verantwortung zu kompliziert – man wäre lieber einfach nur deutsch und allein dadurch supertoll. Ja – wenn man sonst nichts ist, rettet das Deutschsein womöglich den Tag. Empfehlenswert wäre es wohl, lieber man selbst zu sein als superdeutsch – Sterbende bereuen regelmäßig, nicht ihr eigenes Leben gelebt zu haben.

Warum soll man aber die Verantwortung dafür tragen, diese üble Geschichte weiter zu erzählen – warum sie nicht vergessen? Schlimm genug war die Zeit ja, habe noch lebende Verwandte, die sie mitgemacht haben: da gibt es kein gutes Wort für den Führer und seine Anhänger. Müssen die schlimmsten Luschen der Stadt gewesen sein, die da einen Mob bildeten und politische Macht bekamen: ein wichtiges Lehrstück. Und darum geht es ja: aus der Zeit zu lernen. Gelingt dies nicht – nun ja: dann wird man sie wiederholen. Und erste Schritte in diese Richtung haben wir schon gemacht – Stichwort: gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Ich erinnere an das Jahr 2005, an Hartz IV, wo man Menschen die Versicherungsleistungen strich („Arbeitslosenhilfe“) und in Zeiten schlimmer Massenarbeitslosigkeit per Gesetz jenen gleichstellte, die nie zuvor gearbeitet hatten – begleitet von beispiellosen Entgleisungen der politischen Kaste: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ … was auf deutsch heißt: der darf zurecht verhungern. Noch bei weitem entfernt von Vernichtungslagern … aber geeignet, schon mal ihren Inhalt klar zu definieren. „Parasiten“ wurden sie genannt – in Broschüren des Ministeriums. Wer sich seiner Verantwortung aus der dunklen Zeit bewusst war, dem lief es kalt den Rücken herunter.

Dann die unsägliche Jagd auf Ungeimpfte: da konnte man merken, was es bedeutet, dass Hitler das Dritte Reich nicht allein gestaltet hat. Wie schnell Menschen nach 70 Jahren Frieden wieder zu Menschenfressern mutierten und jenen, die auf körperliche Unversehrtheit bestanden, die Menschlichkeit abgesprochen hatten, sie zu Ausgestossenen machten, ihnen Gewalt antun wollten, sie komplett vom öffentlichen Leben ausschließen wollten … da konnte man schon ein leichtes Vorbeben einer Reichskristallnacht wahrnehmen. Ging alles nochmal gut – aber womöglich auch, weil sich noch viele daran erinnern. wie das mal abgelaufen ist. Was möglich war in einer zivilen, kulturell hochstehenden deutschen Nation.

Wir brauchen auch diese Verantwortung, denn: wir sind nicht allein anfällig für die braune Pest – aber womöglich die sinnvollste Nation, die sie im politischen Umfeld erkennen kann: Faschismus haben wir von Anfang bis Ende durch, da kann man womöglich andere mal warnen, die das Experiment auch starten wollen.

Ist ja auch verführerisch, jenen zu folgen, die für komplexe Probleme leichte, einfache, preiswerte Lösungen versprechen – obwohl jene, die sich so positionieren, schon immer für die größten Katastrophen verantwortlich waren – nicht nur im politischen Bereich. Gedankenlosigkeit ist überall von übel – oder?

Wir können uns aber auch – anstatt Verantwortung zu leben – mit aller Macht gegen eine Schuld stellen, die die allermeisten lebenden Deutschen gar nicht haben, weil sie schlichtweg zum Tatzeitpunkt nicht geboren waren: so geht der Tag auch vorbei, oder?

Der Eifelphilosoph

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Von Redaktion

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