Kommentare zu “ABC des Anarchismus” aus “Free21″-Fortsetzung, Teil 2

Banksy Streetart: Keep your coins – I want change.
(Bild: William Mewes / Wikimedia Commons / CC0)
[Der Aufstand 39/23, Seite 8]
 Podcast, Stimme: Omega.

Kommentare zu “ABC des Anarchismus” aus “Free21″-Fortsetzung, Teil 2

ABC des Anarchismus – Teil 2

von: Alexander Berkmann

Free21 stellt in unregelmäßiger Reihenfolge Texte vor, die nicht realexistierende Gesellschaftsentwürfe beschreiben, als Anregung zum Denken. Dieser Text von Alexander Berkman, der 1929 in englischer Sprache erschien, stammt von einem der bedeutendsten Theoretiker des Anarchismus, der heute fast in Vergessenheit geraten ist. Sein Text war und ist eine ausgezeichnete Einführung in die Vorstellungswelt der Anarchisten. Er zeichnet sich durch eine klare, einfache und leicht verständliche Sprache aus. Einen Ausschnitt dieser lesenswerten Schrift stellt Free21 in zwei Teilen vor. Dies ist der zweite und letzte Teil seiner lesenswerten Schrift. Vorschläge für die Rubrik Utopie sind herzlich willkommen! Teil 1 finden Sie hier: [1]

[1] Free 21, Alexander Berkmann, „ABC des Anarchismus – Teil 1” am 10.08.2023, <https://free21.org/abc-des-anarchismus-teil-1/>

Über den Autor

Alexander Berkman, ursprünglich Owsei Ossipowitsch Berkman war ein Anarchist und Schriftsteller. Er war ein führender Aktivist der anarchistischen Bewegung in den USA und arbeitete dort eng mit Emma Goldman zusammen, organisierte Kampagnen für Menschenrechte und gegen den Krieg.

Wird der kommunistische Anarchismus funktionieren?

Wie wir in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben, kann das Leben nicht frei und gesichert, harmonisch und befriedigend sein, wenn es nicht auf den Prinzipien von Gerechtigkeit und Fairness beruht. Gleiche Freiheit und gleiche Chancen sind die erste Voraussetzung für Gerechtigkeit.Mit Regierung und Ausbeutung sind weder gleiche Freiheiten noch Chancengleichheit möglich – daher all das Übel und Leiden in unserer heutigen Gesellschaft. Der kommunistische Anarchismus beruht auf der Einsicht in diese unumstößliche Wahrheit. Er ist auf dem Prinzip der Nichteinmischung und der Zwanglosigkeit gegründet; in anderen Worten, auf Freiheit und Selbstverwirklichung. Ein Leben auf dieser Basis erfüllt die Vorstellungen von Gerechtigkeit vollkommen. Sie werden in völliger Freiheit leben und jeder andere wird die gleiche Freiheit genießen, keiner wird also das Recht haben, andere zu nötigen oder zu zwingen, denn Zwang jeglicher Art stellt eine Einmischung in ihre Freiheit dar.

Gleichermaßen steht allen die Möglichkeit der Selbstverwirklichung zu. Monopol und Privatbesitz an den Lebensgrundlagen werden daher als Beschränkung der allen zukommenden Chancengleichheit abgeschafft. Nur wenn wir dieses einfache Prinzip der gleichen Freiheit und Möglichkeit nicht vergessen, werden wir die beim Aufbau des kommunistischen Anarchismus als Gesellschaftsform auftretenden Probleme lösen können. In politischer Hinsicht wird dann kein Mensch eine Autorität anerkennen, die ihn nötigen oder zwingen kann. Die Regierung wird abgeschafft.

In wirtschaftlicher Hinsicht wird er keinen exklusiven Besitz an den Lebensgrundlagen zulassen, um sich selbst deren freie Nutzung zu erhalten. Das Monopol an Land, der Privatbesitz von Produktionsanlagen, von Vertriebs- und Kommunikationsmitteln kann daher in der Anarchie nicht toleriert werden. Die zum Leben nötigen Dinge müssen jedem frei zugänglich bleiben. Zusammengefasst bedeutet kommunistischer Anarchismus also: Die Abschaffung von Regierung und von zwangausübender Autorität in all ihren Spielarten. Gemeinsames Eigentum – das heißt, freie und gleiche Beteiligung an der allgemeinen Arbeit und am allgemeinen Wohlstand. „Sie sagen, dass die Anarchie Gleichheit in wirtschaftlicher Hinsicht garantiert“, bemerkt Ihr Freund. „Heißt das gleiche Entlohnung für alle?“ Ja, das heißt es. Oder, was auf dasselbe hinausläuft, gleiche Beteiligung am öffentlichen Wohlstand. Denn, wie wir schon wissen, ist Arbeit eine Sache der ganzen Gesellschaft. Niemand kann alles durch eigenes Bemühen allein schaffen. Wenn also die Arbeit sozial ist, muss ihr Resultat, der erwirtschaftete Reichtum, selbstverständlich auch sozial sein und der Gemeinschaft gehören. Aus diesem Grund kann niemand einen Alleinbesitz von gesellschaftlichem Reichtum beanspruchen, in dessen Genuss ja alle gleichermaßen kommen sollen.

„Aber warum wird nicht jeder entsprechend dem Wert seiner Arbeit entlohnt?“ fragen Sie. Weil es kein Verfahren gibt, mit dem Wert gemessen werden kann. Das ist der Unterschied zwischen Wert und Preis. Der Wert einer Sache wird durch ihren Stellenwert bestimmt, während der Preis angibt, wofür sie auf dem Markt gekauft oder verkauft werden kann. Was eine Sache wert ist, kann niemand wirklich sagen. Volkswirtschaftler geben im allgemeinen den Wert einer Ware als Summe der Arbeit an, die für ihre Produktion aufgewendet werden muss; Marx spricht von „gesellschaftlich notwendiger Arbeit“. Aber offensichtlich ist das kein gerechter Maßstab. Angenommen, ein Tischler arbeitet drei Stunden, um einen Küchenstuhl herzustellen, während ein Arzt nur eine halbe Stunde braucht, um eine Ihr Leben rettende Operation auszuführen. Wenn die Summe der aufgewandten Arbeit den Wert bestimmt, dann ist der Stuhl mehr wert als Ihr Leben. Das ist natürlich offenkundiger Unsinn. Selbst wenn Sie die Jahre des Studiums und der Praxis mitzählen, die den Arzt zu der Operation befähigten, wie wollen Sie dann entscheiden, wie viel „eine Operationsstunde“ wert ist? Der Tischler und der Maurer mussten auch lernen, bevor sie ihre Arbeit sicher beherrschten, aber Sie berücksichtigen diese Jahre der Lehrzeit nicht, wenn Sie sie mit einer Arbeit beauftragen. Außerdem ist die besondere Fähigkeit und Neigung in Betracht zu ziehen, die jeder Arbeiter, Schriftsteller, Künstler oder Arzt bei seiner Arbeit einsetzen muss. Dieser Faktor hängt allein von der einzelnen Person ab.

Alexander Berkmann spricht am 1. Mai 1914 auf dem Union Square. (Bild: Library of Congress / Wikimedia Commons / Public domain)

Wie wollen Sie diesen Wert einschätzen? Wert kann deswegen nicht bestimmt werden. Ein und dieselbe Sache mag für eine Person viel wert sein, während sie für eine andere gar keinen oder nur geringen Wert besitzt. Selbst für ein und dieselbe Person mag sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten viel oder wenig wert sein. Ein Diamant, ein Gemälde oder ein Buch mag für den einen sehr viel und für den anderen sehr wenig wert sein. Ein Laib Brot wird Ihnen viel wert sein, wenn Sie hungrig sind und viel weniger, wenn Sie es nicht sind. Selbstverständlich lässt sich der wirkliche Wert einer Sache nicht bestimmen, wenn es sich um eine unbekannte Größe handelt. Der Preis jedoch kann leicht ermittelt werden. Wenn es fünf Laibe Brot gibt und zehn Personen wollen aber je einen kaufen, dann wird der Brotpreis steigen. Er wird aber fallen, wenn zehn Laibe Brot vorhanden sind und fünf Käufer nur je einen erwerben wollen.

Der Preis hängt von Angebot und Nachfrage ab. Der Warenaustausch anhand von Preisen führt zu Profit-mache, zu Übervorteilung und Ausbeutung; in wenigen Worten: Zu irgendeiner Form des Kapitalismus. Wenn Sie die Profite beseitigen wollen, dann können Sie weder ein Preis- noch ein Lohn- oder Gehaltssystem beibehalten.

Das heißt, dass der Austausch entsprechend dem Wert erfolgen muss. Aber da der Wert unsicher oder nicht bestimmbar ist, muss der Warenaustausch auf freier Basis erfolgen, ohne einen „gleichen Wert“, denn so etwas gibt es nicht. In anderen Worten heißt das, die Arbeit und ihr Produkt müssen ohne Preis und ohne Profit frei und entsprechend ihrer Notwendigkeit ausgetauscht werden. Das führt logischerweise zu öffentlichem Eigentum und gemeinsamem Gebrauch. Dieses vernünftige und gerechte System ist als Kommunismus bekannt.

„Aber ist das gerecht, wenn alle dasselbe bekommen?“ fragen Sie. Der Intellektuelle und der Dummkopf, der Fleißige und der Faule, alle dasselbe? Sollte man nicht die Fähigen auszeichnen und besonders anerkennen?“

Lassen Sie mich die Gegenfrage stellen, mein Freund, sollen wir den Menschen noch bestrafen, der von der Natur nicht so großzügig ausgestattet worden ist wie sein stärkerer und talentierterer Nachbar? Sollen wir zu der ihm von der Natur auferlegten Behinderung noch weitere Ungerechtigkeiten hinzufügen? Alles, was wir vernünftigerweise von einem Menschen erwarten können, ist doch, dass er sein Bestes tut – kann jemand überhaupt mehr tun? Wenn das Beste von John nicht so gut ist wie das seines Bruders Jim, dann ist das John’s Missgeschick, aber auf keinen Fall eine Schuld, die bestraft werden muss.

Es gibt nichts Gefährlicheres als Diskriminierung. In dem Augenblick, in dem Sie den weniger Fähigen diskriminieren, legen Sie den Grundstein zu Unzufriedenheit und Empörung: Sie fordern Neid, Uneinigkeit und Streit heraus. Sie würden es für brutal halten, wenn den weniger Fähigen die benötigte Luft und das Wasser entzogen würde. Sollte dasselbe Prinzip nicht auch auf die anderen Bedürfnisse der Menschen angewendet werden? Trotz allem machen Nahrung, Kleidung und Wohnung nur den kleinsten Posten in der Weltwirtschaft aus.

Nicht durch Diskriminierung kann jemand dazu gebracht werden, dass er sein Bestes tut, sondern indem man ihn ebenso wie alle anderen behandelt. Das ist die wirksamste Ermutigung und der beste Ansporn. Das ist gerecht und menschlich.

„Aber was werden Sie mit den faulen Leuten tun, jenen, die nicht arbeiten wollen?“ fragt Ihr Freund. Das ist eine interessante Frage und Sie werden sicherlich sehr erstaunt sein, wenn ich sage, dass es so etwas wie Faulheit in Wirklichkeit nicht gibt. Was wir einen faulen Menschen nennen, ist gemeinhin ein Mensch am falschen Platz. Das heißt, der richtige Mann ist am falschen Platz. Sie werden immer feststellen können, dass der an den falschen Platz gestellte Mensch träge und wenig leistungsfähig ist. Denn die sogenannte Faulheit und ein großer Teil von Untüchtigkeit sind nichts anderes als geringe Eignung und falscher Einsatz. Wenn Sie etwas machen müssen, wozu Sie sich aus Mangel an Talent und Begeisterung nicht eignen, werden Sie wenig leisten; wenn Sie gezwungen werden, uninteressante Arbeiten auszuführen, werden Sie faul sein.

Jeder, der einmal einen Betrieb geführt hat, in dem eine große Anzahl von Menschen beschäftigt war, kann das bestätigen. Das Leben im Gefängnis liefert einen besonders überzeugenden Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung – und letztlich stellt die heutige Lebensform für die meisten Menschen nichts anderes als ein größeres Gefängnis dar. Jeder Gefängniswärter kann Ihnen bestätigen, dass Gefangene immer dann faul und ständigen Bestrafungen ausgesetzt sind, wenn ihnen Aufgaben übertragen werden, für die sie sich nicht eignen oder interessieren. Aber sobald diesen „widerspenstigen Sträflingen“ eine Arbeit zugewiesen wird, die ihren Neigungen entspricht, dann werden sie „Mustermenschen“, wie die Gefängniswärter sie nennen.

Auch Russland hat die Wahrheit dieser Tatsache in bemerkenswerter Weise demonstriert. Dort konnte man erfahren, wie wenig wir über menschliches Verhalten und über den Einfluss der Umwelt darauf wissen – wie wir falsche Voraussetzungen als schlechtes Verhalten missdeuten. Russische Flüchtlinge, die im Ausland ein elendes und unbedeutendes Leben geführt hatten, leisteten nach ihrer Heimkehr und nachdem sie erkannt hatten, dass die Revolution ihren Aktivitäten freien Raum gab, Großartiges in ihren Arbeitsgebieten, sie entwickelten sich zu brillanten Organisatoren und Erbauern von Eisenbahnen und Industrien. Unter den heutzutage im Ausland weithin bekannten Namen von Russen gibt es viele, deren Träger unter den früheren Lebensbedingungen als faul und nicht leistungsfähig galten, deren Fähigkeiten und Energien aber nur kein geeignetes Betätigungsfeld gefunden hatten. Das ist menschliches Wesen: Leistungsfähigkeit auf einem bestimmten Gebiet bedeutet Neigung und Begabung dafür; Fleiß und Eifer signalisieren Interesse. Das ist der Grund, weswegen in der heutigen Welt die Faulheit so verbreitet und die Leistungsfähigkeit so gering ist. Denn wer steht heute schon am richtigen Platz? Wer hat eine Arbeit, in der er aufgeht und die ihn wirklich interessiert?

Unter den gegenwärtigen Bedingungen hat der Durchschnittsmensch kaum die Möglichkeit, sich einer seinen Neigungen und Vorzügen entsprechenden Aufgabe zu widmen. Die gesellschaftliche Position, in die Sie zufällig hineingeboren werden, bestimmt im allgemeinen Ihr Gewerbe oder Ihren Beruf im voraus. Der Sohn eines Finanziers wird in der Regel nicht Holzfäller, obwohl er vielleicht besser mit Baumstämmen als mit Bankkonten umgehen kann. Die Mittelklasse schickt ihre Kinder auf Hochschulen, damit sie Ärzte, Juristen oder Ingenieure werden. Aber falls Ihre Eltern Arbeiter sein sollten, die es sich nicht leisten können, Sie studieren zu lassen, werden Sie wahrscheinlich irgendeinen Ihnen angebotenen Job annehmen oder irgendein Handwerk erlernen, in dem zufällig eine Lehrstelle frei ist. Ihre besondere Situation wird über Ihre zukünftige Arbeit oder Beruf entscheiden und nicht Ihre Begabungen, Neigungen oder Fähigkeiten. Ist es dann noch überraschend, dass die meisten Menschen, und zwar die überwiegende Mehrheit, tatsächlich am falschen Platz eingesetzt ist? Fragen Sie die nächsten hundert Menschen, die Ihnen begegnen, ob sie sich ihre jetzige Arbeit wieder ausgesucht hätten oder sie sogar beibehalten möchten, wenn ihnen die Freiheit gegeben wäre zu wählen. Neunundneunzig von ihnen werden zugeben, dass sie lieber eine andere Beschäftigung vorziehen.

Armut und materielle Vorteile oder auch nur ein Hoffen auf materielle Vorteile halten die meisten Menschen am falschen Arbeitsplatz fest.

Es leuchtet ein, dass eine Person ihr Bestes nur geben kann, wenn sie sich für die Arbeit interessiert, wenn sie sich dazu auf natürliche Weise hingezogen fühlt und wenn sie ihr gefällt. Dann wird sie fleißig und tüchtig sein. Die Dinge, die der Handwerker in der Zeit vor dem modernen Kapitalismus erstellte, waren Gegenstände der Freude und Schönheit, weil der Handwerker seine Arbeit liebte. Können Sie von dem modernen Arbeitstier in der modernen Fabrik erwarten, dass es schöne Dinge herstellt? Es ist Teil der Maschine, ein Rädchen in der seelenlosen Industrie und seine Arbeit erfolgt mechanisch und erzwungen. Hinzu kommt noch das Gefühl des Arbeiters, nicht für sich selbst, sondern für den Profit eines anderen zu arbeiten, er hasst diesen Job oder hat zumindest kein anderes Interesse daran, als dass er ihm seinen wöchentlichen Lohn garantiert. Das Ergebnis ist Drückebergerei, mangelnde Leistungsfähigkeit und Faulheit.

Das Aktivitätsbedürfnis ist einer der fundamentalsten menschlichen Triebe. Wenn Sie ein Kind beobachten, werden Sie seinen starken Instinkt erkennen zu handeln, sich zu bewegen oder etwas zu tun. Kraftvoll und stetig. Genauso steht es mit dem gesunden Menschen. Seine Energie und Vitalität fordern Ausdrucksmöglichkeiten. Gestatten Sie ihm, die von ihm selbstgewählte Arbeit oder geliebte Dinge zu tun, so wird sein Eifer weder Überdruss noch Drückebergerei kennen. Das können Sie beim Fabrikarbeiter beobachten, der das Glück hat, einen Garten oder ein Stück Land zu besitzen, wo er Blumen oder Gemüse züchten kann. So erschöpft er von seiner Plackerei auch sein mag, hat er doch noch Freude an der härtesten Arbeit, die er zum eigenen Vergnügen und aus freier Wahl ausführt.

Im Anarchismus wird jeder die Möglichkeit haben, der seinen natürlichen Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Beschäftigung nachzugehen. Anders als die betäubende Plackerei heute wird Arbeit dann zum Vergnügen werden. Faulheit wird unbekannt und die mit Interesse und Liebe geschaffenen Dinge werden Gegenstände der Schönheit und Freude sein.

Alexander Berkmann zusammen mit Emma Goldman. (Bild: U.S. federal government / Wikimedia Commons / public domain)

„Aber kann denn Arbeit jemals zum Vergnügen werden?“ fragen Sie. Arbeit bedeutet heute Schufterei und ist unangenehm, ermüdend und langweilig. Aber gewöhnlich ist es nicht die Arbeit, die so hart ist: Die Bedingungen, unter denen Sie zur Arbeit gezwungen werden, machen diese so hart. Besonders die lange Zeit, die unhygienischen Werkstätten, die schlechte Behandlung, die unzureichende Bezahlung usw. Sogar die unangenehmste Arbeit könnte durch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen erleichtert werden. Nehmen wir beispielsweise die Kanalreinigung. Es ist eine schmutzige und erbärmlich bezahlte Arbeit. Aber nähmen wir zum Beispiel an, dass Sie anstatt 5 Dollar pro Tag 20 Dollar dafür bezahlt bekämen. Dann würden Sie Ihren Job sofort als viel einfacher und angenehmer empfinden. Die Zahl der Bewerber für diese Arbeit würde sofort ansteigen. Das bedeutet doch, dass Menschen nicht faul sind und harte oder unangenehme Arbeiten nicht scheuen, wenn diese nur angemessen belohnt werden. Aber solch eine Beschäftigung wird als niedrig erachtet und man sieht auf sie herab. Warum gilt sie als niedrig? Ist sie nicht außerordentlich nützlich und unbedingt notwendig? Würden nicht ohne Straßen- und Kanalreiniger Epidemien über unsere Stadt kommen? Ganz gewiss sind diese Menschen, die unsere Stadt sauber und rein halten, wahre Wohltäter und für unsere Gesundheit und unser Wohlergehen noch wichtiger als der Familiendoktor. Vom Standpunkt der Nützlichkeit für die Gesellschaft ist der Straßenreiniger ein Berufskollege des Arztes: Der letztere behandelt uns, wenn wir krank sind, während der erstere dafür sorgt, dass wir gesund bleiben. Trotzdem schaut man zu dem Arzt auf und achtet ihn, wohingegen der Straßenreiniger geringschätzig behandelt wird. Warum? Weil die Arbeit des Straßenreinigers schmutzig ist? Aber der Chirurg muss oft noch viel „schmutzigere“ Arbeiten durchführen. Warum wird also der Straßenreiniger verachtet? Weil er wenig verdient.

In unserer perversen Zivilisation werden alle Dinge am Maßstab Geld gemessen.

Nützlichste Arbeit leistende Menschen stehen auf der untersten sozialen Stufe, wenn ihre Beschäftigung schiecht bezahlt wird. Sollte jedoch etwas geschehen, was dazu führt, dass die Straßenreiniger l00 Dollar pro Tag erhalten, während der Doktor 50 Dollar verdient, dann würde der „dreckige“ Straßenreiniger sofort in der Achtung und der gesellschaftlichen Rangordnung steigen, aus dem „schmutzigen Arbeiter“ würde der vielumworbene Mann mit dem guten Einkommen werden. Sie sehen also, dass heute – in unserem auf Profit ausgerichteten System – die Bezahlung, die Entlohnung, die Lohnskala und nicht etwa Wichtigkeit oder Nützlichkeit den Wert einer Arbeit ebenso wie den „Wert“ des Menschen bestimmen. Eine vernünftige Gesellschaftsordnung – unter anarchistischen Bedingungen – würde in solchen Dingen völlig andere Maßstäbe in der Beurteilung anlegen. Menschen werden dann entsprechend ihrer Bereitwilligkeit, der Gesellschaft nützlich zu sein, eingeschätzt.

Können Sie sich vorstellen, welch gewaltige Veränderungen solch eine neue Haltung mit sich bringen würde? Jeder sehnt sich nach Achtung und Anerkennung seitens seiner Mitmenschen: Das ist ein Elixier, ohne das wir nicht leben können. Sogar im Gefängnis konnte ich beobachten, wie der gerissene Taschendieb oder Geldschrankknacker nach Anerkennung durch seine Freunde lechzte und wie sehr er sich bemühte, ihre Hochachtung zu erlangen. Die Meinung unserer Mitmenschen über uns beherrscht unser Verhalten. Die soziale Atmosphäre bestimmt zu einem hohen Grad unsere Wertvorstellung und unser Verhalten. Ihre persönliche Erfahrung wird Ihnen zeigen, wie wahr das ist. Sie werden darum auch nicht überrascht sein, wenn ich behaupte, dass sich in einer anarchistischen Gesellschaft die Menschen eher um die am meisten nützliche und schwierige Arbeit als um den leichteren Job bemühen werden. Wenn Sie das berücksichtigen, werden Sie keine Bedenken mehr bezüglich Faulheit und Drückebergerei haben. Zudem könnte auch das härteste und lästigste Tagewerk unter leichteren und besseren Arbeitsbedingungen erledigt werden, als es heute der Fall ist. Wenn der kapitalistische Arbeitgeber es vermeiden kann, wird er kein Geld ausgeben, um seinen Angestellten die Arbeit angenehmer und leichter zu machen. Er wird Verbesserungen nur einführen, wenn er sich dadurch größeren Gewinn erhofft, aber aus rein humanitären Gründen wird er sich nicht in Extraausgaben stürzen. Gleichwohl möchte ich Sie an dieser Stelle daran erinnern, dass intelligentere Arbeitgeber allmählich begreifen, dass es sich auszahlt, wenn sie ihre Fabriken verbessern, sie in sanitärer und hygienischer Hinsicht ausbauen und allgemein die Arbeitsbedingungen erleichtern. Sie erkennen, dass das eine gute Anlage ist: Das Ergebnis ist steigende Zufriedenheit und folglich eine größere Leistungsfähigkeit ihrer Arbeiter. Das Prinzip ist gut. Heute wird es natürlich nur zum Zweck des größeren Profits ausgenutzt. Aber im Anarchismus würde es nicht um des persönlichen Profits willen angewandt werden, sondern im Interesse der Gesundheit des Arbeiters und zur Erleichterung seiner Arbeit. Unser technischer Fortschritt ist so groß und anhaltend, dass der größte Teil der Schwerstarbeit durch moderne Maschinen und arbeitssparende Anlagen getan werden könnte. In vielen Industrien, wie zum Beispiel dem Bergbau, werden neue Sicherheitsvorkehrungen und sanitäre Anlagen nicht eingeführt, weil den Arbeitgebern das Wohlergehen der Arbeitnehmer gleichgültig ist und weil sie die dafür notwendigen Ausgaben nicht machen wollen. In einem System aber, das nicht profitorientiert ist, würde die technische Wissenschaft nur das Ziel im Auge haben, die Arbeit sicherer, gesünder, leichter und angenehmer zu machen.

„Aber wie leicht Sie die Arbeit auch machen, es ist doch kein Vergnügen, acht Stunden am Tag zu arbeiten“, wendet Ihr Freund ein. Da haben Sie vollkommen recht. Aber haben Sie jemals nachgedacht, warum wir acht Stunden pro Tag arbeiten? Wissen Sie, dass vor noch gar nicht so langer Zeit die Menschen zwölf bis vierzehn Stunden pro Tag schufteten und dass das noch heute in rückständigen Ländern wie China und Indien der Fall ist? Es kann statistisch nachgewiesen werden, dass höchstens drei Stunden Arbeit pro Tag ausreichen würden, um die Menschen zu ernähren, zu beherbergen, zu kleiden und nicht nur mit dem unbedingt Notwendigen auszustatten, sondern auch mit allem modernen Lebenskomfort. Der Punkt ist doch der, dass heute nicht einer von fünf Menschen produktive Arbeit leistet. Die gesamte Welt wird von einer kleinen Minderheit von Schwerarbeitern ausgehalten.

Schauen wir uns zuerst einmal die in der heutigen Gesellschaft verrichteten Arten von Arbeit an, die unter anarchistischen Bedingungen unnötig wären.

Nehmen Sie die Armee- und Marineeinheiten der ganzen Welt und überlegen Sie, wie viele Millionen Menschen für nützliche und produktive Arbeiten freigestellt wären, wenn erst einmal der Krieg abgeschafft sein würde, was in der Anarchie selbstverständlich der Fall wäre.

In jedem Land versorgen die Arbeiter Millionen, die nichts zum Wohlstand des Landes beitragen, die nichts schaffen und keinerlei nützliche Arbeit verrichten.

Diese Millionen sind nur Verbraucher, ohne in irgendeiner Weise Hersteller zu sein. In den Vereinigten Staaten gibt es beispielsweise bei einer Bevölkerung von 120 Millionen einschließlich der Bauern weniger als 30 Millionen Arbeiter. In der Regel ist die Situation in jedem Land gleichartig. Ist es da noch erstaunlich, dass die Arbeiter viele Stunden lang schuften müssen, wenn unter 120 Menschen nur 30 Arbeiter sind? Die großen Unternehmerkreise mit ihren Angestellten, Assistenten, Agenten und Handlungsreisenden, die Gerichte mit ihren Richtern, Protokollführern, Gerichtsvollziehern usw.; die Legionen von Anwälten mit ihren Angestellten; die Miliz und Polizei; die Kirchen und Klöster; die Wohlfahrtsvereine und Armenhäuser; die Gefängnisse mit ihren Wärtern, Beamten und den unproduktiven Gefangenen; die Armee der Werbeleute und ihren Helfern, deren Aufgabe es einzig und allein ist, Sie zum Kauf von etwas zu verführen, was Sie nicht haben wollen oder brauchen können, ganz zu schweigen von den zahllosen Menschen, die luxuriös in absolutem Müßiggang leben. Sie gehen in die Millionen in jedem Land. Wenn also all diese Millionen sich einer nützlichen Arbeit widmen würden, müsste sich dann der Arbeiter acht Stunden pro Tag schinden? Wenn 30 Männer acht Stunden für die Erledigung einer bestimmten Aufgabe benötigen, in wieviel Stunden weniger würden 120 Männer dieselbe Aufgabe bewältigen? Ich will Sie nicht mit Statistiken belasten, aber die vorhandenen Daten reichen für den Nachweis aus, dass drei Stunden physischer Anstrengung pro Tag und Person ausreichen würden, um die in der ganzen Welt anfallenden Arbeiten zu erledigen. Können Sie überhaupt daran zweifeln, dass selbst die härteste Arbeit zum Vergnügen würde, wenn anstelle der gegenwärtigen verfluchten Schinderei nur drei Stunden pro Tag dafür aufgewendet werden müssten, dazu noch unter den besten sanitären und hygienischen Bedingungen in einer Atmosphäre der Brüderlichkeit und Achtung vor körperlicher Arbeit?

Aber der Tag ist nicht schwer vorauszusehen, an dem die Anzahl dieser wenigen Stunden noch weiter vermindert wird. Denn wir verbessern unsere technischen Methoden ständig und erfinden fortlaufend neue arbeitssparende Maschinen. Technischer Fortschritt bedeutet weniger Arbeit und größeren Komfort, vergleichen Sie das Leben in den USA mit dem in China oder Indien und Sie werden diesen Zusammenhang leicht erkennen. In diesen beiden Ländern arbeiten die Menschen viele Stunden, nur um ihr Überleben zu sichern, während in Amerika selbst der Durchschnittsarbeiter einen viel höheren Lebensstandard bei weniger Arbeitsstunden genießen kann. Der Fortschritt der Wissenschaft und neue Erfindungen geben uns mehr Muse für unsere Lieblingsbeschäftigungen. Ich habe mit groben Strichen die Möglichkeiten eines Lebens in einem vernünftigen System umrissen, in dem der Profit abgeschafft wurde. Es ist nicht nötig, auf die kleinsten Einzelheiten dieser Gesellschaftsordnung einzugehen. Es ist genug gesagt worden, um zu zeigen, dass kommunistischer Anarchismus größeren materiellen Wohlstand in Verbindung mit einem Leben in Freiheit für jeden und alle bedeutet.

Wir können uns ein Bild von der Zeit machen, in der Arbeit eine angenehme Übung, einen freudigen Einsatz der körperlichen Kraft darstellt, um die Bedürfnisse der Welt zu befriedigen. Die Menschen werden dann auf unsere Zeit zurückblicken und nicht verstehen können, dass Arbeit jemals Schinderei sein konnte; sie werden an dem Verstand einer Generation zweifeln, in der weniger als ein Fünftel der Bewohner darunter litt, im Schweiße seines Angesichts das Brot für die anderen verdienen zu müssen, während diese dem Müßiggang frönten und ihre Zeit, ihre Gesundheit und den Reichtum der Menschen verschwendeten. Sie werden staunen, dass jemaIs die uneingeschränkte Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse nicht als selbstverständlich angesehen wurde oder dass Menschen, die eigentlich alle dasselbe suchten, darauf verfielen, sich durch Hader untereinander das Leben zu erschweren und unausstehlich zu machen. Sie werden es nicht glauben können, dass das ganze Dasein der Menschheit aus einem ständigen Kampf um Nahrung in einer mit Luxus angefüllten Welt bestand, ein Kampf, der der großen Mehrheit weder Zeit noch Kraft zur Erfüllung ihrer Herzenswünsche ließ.

„Aber führt ein Leben in der Anarchie bei wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit nicht zu allgemeiner Gleichmacherei?“ fragen Sie. Nein, mein lieber Freund, ganz im Gegenteil Gleichheit bedeutet nicht gleiche Menge, sondern gleiche Möglichkeit. Das heißt zum Beispiel nicht, dass, wenn Herr Schmidt fünf Mahlzeiten pro Tag braucht, Herr Müller auch so viele haben muss. Wenn Herr Müller nur drei Mahlzeiten haben möchte, während Herr Schmidt fünf verlangt, dann mögen sie verschiedene Mengen konsumiert haben, aber beide Männer haben genau die gleiche Möglichkeit, so viel zu essen, wie sie benötigen, das heißt, so viel ihr Körper braucht.

Begehen Sie nicht den Fehler, die Gleichheit in der Freiheit mit der aufgezwungenen Gleichheit in einem Gefangenenlager zu verwechseln. Wahre anarchistische Gleichheit bedeutet freie Nutzung, nicht Quantität. Sie fordert nicht, dass jeder dasselbe essen, dasselbe trinken oder dieselbe Kleidung tragen muss, dieselbe Arbeit verrichten oder den gleichen Lebensstil haben muss. Weit davon entfernt; in Wirklichkeit ist das genaue Gegenteil richtig. Bedürfnisse und Vorliebe der einzelnen Menschen weichen voneinander ab, ebenso wie sich ihre Esslust unterscheidet. Die gleiche Möglichkeit sie zu befriedigen, macht die wahre Gleichheit aus. Weit entfernt von Gleichmacherei öffnet gerade diese Gleichheit die Türen zur größtmöglichen Vielfalt in Tätigkeit und Entwicklung der Menschen. Da der Charakter der Menschen unterschiedlich ist, führt nur die Unterdrückung seiner Mannigfaltigkeit zu Gleichmacherei, Eintönigkeit und Langeweile. Gerade die Möglichkeit, die eigene Individualität ungehindert ausdrücken und ausleben zu können, gibt der Entwicklung natürlicher Unterschiede und Variationen Raum.

Man sagt, dass keine zwei Grashalme einander gleichen. Um wieviel weniger tun es dann menschliche Wesen. Auf der ganzen Welt gibt es keine zwei Menschen, die einander genau gleich sind, nicht einmal in ihrem äußeren Erscheinungsbild; noch unterschiedlicher sind sie in ihrer physiologischen, geistigen und körperlichen Struktur. Trotz dieser Vielfalt und der tausendundeinen Unterscheidungsmerkmale zwingen wir die Menschen heute zur Uniformität. Unser Leben und unsere Gebräuche, unser Verhalten und unsere Sitten, sogar unsere Gedanken und Gefühle werden in eine Einheitsform gepresst bis sie nicht mehr unterscheidbar sind.

Der Autoritätsgeist, Gesetze, geschriebene und ungeschriebene, Traditionen und Gewohnheit zwingen uns in eine gemeinsame Schablone und machen den Menschen zum willenlosen Automaten ohne Unabhängigkeit oder Individualität.

Diese moralische und intellektuelle Knechtschaft wirkt stärker als jeder physische Zwang zerstörerisch auf unsere Menschlichkeit und Entfaltung. Wir alle sind ihre Opfer und nur die ungewöhnlich Tüchtigen zerbrechen ihre Ketten, aber auch sie können sie nicht völlig abstreifen.

Die Autorität der Vergangenheit und Gegenwart bestimmt nicht nur unser Verhalten, sondern beherrscht auch unsere Gedanken und Seelen und erstickt fortwährend jedes Symptom der Nichtanpassung, unabhängiger Verhaltensweisen und unorthodoxer Meinungen. Die ganze Wucht der gesellschaftlichen Verurteilung trifft den Mann oder die Frau, die die konventionellen Verhaltensweisen herausfordern. Unbarmherzige Rache wird an dem Widerspenstigen geübt, der dem ausgetretenen Pfad nicht folgen will, oder dem Ketzer, der die gängigen Glaubenssätze anzweifelt. In der Wissenschaft und Kunst, in der Literatur, Dichtung und Malerei führt diese Gesinnung im Endergebnis zu Anpassung und Angleichung, zu Nachahmung des Etablierten und Anerkannten, zu Uniformität und Einförmigkeit, zu stereotyper Ausdrucksweise. Aber noch schlimmer wird Nichtkonformität im Alltagsleben und in unserem tagtäglichen Umgang bestraft. Dem Maler und Schriftsteller mag eine Herausforderung der Sitten und Vorrechte gelegentlich verziehen werden, denn letztlich findet ihre Rebellion nur auf Papier oder Leinen statt; sie wirkt nur auf einen verhältnismäßig kleinen Kreis. Diese Künstler werden entweder gar nicht beachtet oder als Spinner abgetan, die wenig Schaden anrichten können, aber anders ist es mit dem Menschen der Tat, der seine Herausforderung der akzeptierten Normen in die Gesellschaft hinausträgt. Er ist nicht harmlos. Er ist gefährlich wegen der Macht des Vorbilds und schon allein durch seine Gegenwart; Eine Verletzung der gesellschaftlichen Regeln durch ihn kann weder ignoriert noch vergeben werden. Er wird als Feind der Gesellschaft angeprangert.

Dies ist der Grund, dass revolutionäre Gedanken in „exotischer“ Dichtung oder in hochintellektuellen philosophischen Dissertationen verziehen werden und die offizielle und inoffizielle Zensur passieren können, denn sie sind für die breitere Öffentlichkeit weder zugänglich noch verständlich. Aber drücken Sie dieselbe abweichende Haltung populär aus, dann werden Sie sich sofort konfrontiert sehen mit der geifernden Denunzierung durch alle jene Kräfte, die für die Erhaltung des Etablierten eintreten.

Erzwungene Willfährigkeit hat schlimmere und abstumpfendere Wirkung als das bösartigste Gift. Zu allen Zeiten war sie das größte Hindernis für den menschlichen Fortschritt, sie engte den Menschen mit tausend Verboten und Tabus ein, belastete seine Seele und sein Herz mit überlebten Maßstäben und Regeln, engte seinen Willen mit Geboten des Denkens und Fühlens ein, mit „Du sollst“ und „Du sollst nicht“ in bezug auf Verhalten und Handeln. Das gesamte Leben – die Kunst zu leben – ist in einer stumpfsinnigen, langweiligen und unbeweglichen Schematik erstarrt.

Zitat: gutezitate.com

Trotzdem ist die angeborene Vielfalt der menschlichen Natur so stark gewesen, dass selbst der Jahrhunderte währende Prozess der Verdummung die menschliche Originalität und Einzigartigkeit nicht völlig auslöschen konnte. Es ist schon wahr, dass die große Mehrheit die eingefahrenen Gleise nicht mehr verlassen kann, aber einige brechen doch aus dem allgemeinen Trott aus und finden neue Wege, die zu herrlichen und begeisternden Perspektiven führen. Die Welt verurteilt sie, folgt aber allmählich doch Schritt für Schritt ihrem Beispiel und ihrer Führung und schließt endlich zu ihnen auf. Wenn die Wegbereiter in der Zwischenzeit gestorben sind, bauen wir ihnen Denkmäler und verherrlichen diese Menschen, die wir zuvor geschmäht und gekreuzigt haben, ebenso wie wir fortfahren, ihre Nachfolger, die Bahnbrecher unserer Tage, zu kreuzigen.

Hinter dem Geist der Intoleranz und Verfolgung verbirgt sich die Gewöhnung an Autorität: Der Zwang, sich den herrschenden Maßstäben anzupassen, der Druck – in Bezug auf Moral und Gesetz – so zu sein und so zu handeln wie alle anderen, je nach Vorschrift und Kodex.

Die allgemeine Anschauung, Anpassung sei ein natürlicher Charakterzug, ist vollkommen falsch. Im Gegenteil, der Mensch zeigt seine Ursprünglichkeit und Originalität bei der ersten besten Gelegenheit, wenn er sich von den ihm von Geburt an eingeimpften Gewohnheiten freimachen kann. Wenn Sie beispielsweise Kinder beobachten, werden Sie höchst mannigfaltige Unterschiede in Art und Verhalten sowie in der geistigen und psychischen Ausdrucksweise erkennen. Sie werden eine instinktive Neigung zur Individualität und Unabhängigkeit, zur Nichtanpassung, entdecken, die in offener und versteckter Herausforderung des ihnen auferlegten Willens anderer, in Rebellion gegen die Autorität der Eltern und Lehrer zu Tage tritt. Die gesamte Ausbildung und „Erziehung“ des Kindes ist nichts weiter als ein ununterbrochener Unterdrückungs- und Zerstörungsprozess dieser Neigung, die Auslöschung seiner charakteristischen Eigenheiten, seiner Besonderheit gegenüber anderen, seiner Persönlichkeit und Originalität.

Auch bis das Kind erwachsen ist verbleibt trotz der jahrelangen Unterdrückung und Verformung immer noch ein Rest von Originalität in ihm; dies zeigt, wie tief die Wurzeln der Individualität reichen. Nehmen Sie beispielsweise irgendwelche zwei Menschen, die gleichzeitig Zeugen ein und derselben Katastrophe geworden sind, angenommen, eines großen Feuers, und alles auch von demselben Ort verfolgt haben. Jeder wird über das Geschehen anders berichten, jeder wird in der ihm eigenen Art Bezüge herstellen und der beim Zuhörer erweckte Eindruck wird unterschiedlich sein; denn beide Beobachter besitzen von Natur aus eine anders geartete Psyche. Aber reden Sie mit denselben beiden Menschen zum Beispiel über fundamentale gesellschaftliche Angelegenheiten, über das Leben und die Regierung, und Sie werden sofort haargenau die gleiche „Ansicht“, nämlich die unkritisch übernommene gängige Meinung zu hören bekommen.

Warum? Weil der Mensch da frei und selbstbewusst sprechen wird, wo er frei denken und fühlen kann, wo er durch keine Vorschrift und Regel gehemmt und nicht durch Angst vor sich ergebenden unangenehmen Konsequenzen zurückgehalten wird, „anders“ und unorthodox zu sein. Aber in dem Augenblick, in dem das Gespräch Themen im Bereich unserer gesellschaftlichen Gebote berührt, dann wird man, gefangen in den Klauen der Tabus, zu einem Echo und Papageien.

Das Leben in Freiheit, in der Anarchie, wird mehr vollbringen, als den Menschen nur allein von seiner gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Knechtschaft zu befreien. Das wird nur der erste, der einleitende Schritt zum wirklichen menschlichen Leben sein. Viel größer und bedeutender werden die Ergebnisse einer solchen Freiheit sein, ihre Wirkung auf den Verstand und die Persönlichkeit des Menschen. Die Abschaffung des auf fremdem Willen basierenden Zwangs und damit der Angst vor Autorität wird die den Menschen durch moralischen und um nichts weniger auch die durch wirtschaftlichen und physischen Druck angelegten Fesseln lösen. Der menschliche Geist wird frei atmen können und diese geistige Emanzipation wird die Geburt einer neuen Kultur und einer neuen Menschlichkeit sein. Gebote und Tabus werden fallen, und der Mensch wird anfangen, er selbst zu sein, seine individuellen Neigungen und seine Einzigartigkeit zu entwickeln und auszudrücken. Anstatt zu sagen „Du sollst nicht“, wird die Öffentlichkeit sagen „Du kannst, wenn Du die volle Verantwortung übernimmst“. Das wird eine Übung in menschlicher Würde und Selbstvertrauen sein, die zuhause und in der Schule beginnt und eine neue Rasse mit einer neuen Lebenseinstellung hervorbringen wird.

Der Mensch der Zukunft wird das Dasein auf einem völlig anderen Niveau sehen und erleben. Das Leben wird für ihn eine Kunst und eine Freude sein. Er wird es nicht mehr als ein Wettrennen ansehen, bei dem jeder versuchen muss, so schnell wie der Beste zu sein. Er wird Freiheit für wichtiger als Arbeit halten, und die Arbeit wird ihren richtigen, untergeordneten Platz als Mittel zur Muse und Vergnügen am Leben einnehmen.

Das Leben wird ein Streben nach besseren kulturellen Werten, nach Ergründung der Naturgeheimnisse und Erreichen einer höheren Wahrheit werden. Wenn der Mensch frei ist, die unbegrenzten Möglichkeiten seines Verstandes zu nutzen, seinem Wissensdrang zu folgen, seine Erfindungsgabe anzuwenden, zu schaffen und sich auf den Flügeln seiner Phantasie emporzuschwingen, dann wird er seine volle Größe erlangen und wirklich Mensch sein. Er wird entsprechend seiner Natur wachsen und sich entwickeln. Er wird Uniformität verachten und die menschliche Mannigfaltigkeit wird ihm ein größeres Interesse und ein befriedigenderes Gefühl für den Reichtum des Lebens geben. Das Leben besteht für ihn nicht aus Funktionieren sondern im Erleben und er wird die größte von Menschen erreichbare Freiheit erlangen – eine Freiheit in Freude.

„Dieser Tag liegt in ferner Zukunft“, sagen Sie, „wie sollen wir ihn herbeiführen?“ Vielleicht liegt er in weiter Zukunft, aber vielleicht auch nicht so weit – man weiß es nicht. Auf jeden Fall sollten wir immer unser endgültiges Ziel im Auge behalten, wenn wir auf dem richtigen Weg bleiben wollen. Der von mir beschriebene Wechsel wird nicht über Nacht kommen; nichts kommt je über Nacht. Es wird eine allmähliche Entwicklung sein, genauso wie überall in der Natur und im gesellschaftlichen Leben. Es wird aber eine folgerichtige, notwendige und, ich wage sogar zu sagen, unvermeidbare Entwicklung sein. Unvermeidlich, weil die gesamte Entwicklung des menschlichen Wachstums in diese Richtung gegangen ist, wenn sie manchmal auch Zickzack lief und dabei vom Weg abkam, sie hat jedoch den richtigen Pfad immer wiedergefunden. Wie kann also dieser Tag herbeigeführt werden?

Quelle: Alexander Berkman – ABC des Anarchismus. Verlag Klaus Guhl. 1978. S.22-34. USA Originaltitel: „What is Communist Anarchism?”. 1929

ENDE


Kommentare zum kommunistischen Anarchismus von A. Berkman!

Der Teil 1 dieser Serie erschien bereits mit Kommentaren in der Ausgabe 35/23 und 36/23 von „Der Aufstand“.

1. Ich teile die Einschätzung aus der Einleitung von „Free21“ über A. Berkman nicht. A. Berkman war kein bedeutender Theoretiker des „Anarchismus“. Er versuchte auf der Basis seiner sehr oberflächlichen Kenntnisse als Buchdrucker über politische Wissenschaften, die vage Idee eines „kommunistischen Anarchismus“ von P. Kropotkin nach dessen Tod weiter auszuarbeiten und zu propagieren. Vielleicht wäre P. Kropotkin, der wirklich ein routinierter und gestandener Wissenschaftler war, bei längerer Bearbeitung dieser Idee auf dessen praktische Unbrauchbarkeit gestoßen, aber A. Berkman war dem Thema intellektuell einfach nicht gewachsen.

Der Grund für den Entwurf einer Idee des „kommunistischen Anarchismus“ durch P. Kropotkin, resultierte aus dessen Beobachtung, dass die staatskapitalistischen Sozialisten, bei zahlenmäßiger Unterlegenheit gegenüber den Anarchisten, diesen organisatorisch w

eit überlegen waren und im Gegensatz zu den Anarchisten, echte Erfolge beim Aufbau ihrer Diktatur zu verzeichnen hatten. P. Kropotkins erster Reflex bestand darin, das Konzept der anarchistischen Herrschaftslosigkeit, irgendwie mit dem Konzept der Diktatur der sozialistischen Übergangsgesellschaft zu verbinden. Er hatte bis zu seinem Tode am 08.02.1921 leider nicht mehr genügend Gelegenheit um zu erkennen, dass die Lösung wahrscheinlich in radikaldemokratischen Verhältnissen zu finden ist.

Der Ausgangspunkt von P. Kropotkins Überlegungen zu einem „kommunistischen Anarchismus“, lag in der Übereinstimmung zweier utopischer Behauptungen begründet. Die Behauptung der Anarchisten ist, dass eine Gesellschaft ohne einen demokratischen Staatsapparat funktionieren könnte und die Behauptung der Kommunisten ist, dass der von ihnen übernommene bürgerliche Staat im Sozialismus/Staatskapitalismus, irgendwann von ganz alleine absterben würde. Beide Annahmen haben sich als wirklich utopisch und völlig unrealistisch erwiesen.

Statt dessen stellen die Radikaldemokraten die Frage: Wessen Staat ist der Staat, der Staat der Eigentümer, oder der Staat der Besitzer?

2. A. Berkman schummelte mit dem Titel seiner Schrift, weil es ihm eben nicht um ein ABC des Anarchismus allgemein geht, sondern um die Agitation für die Idee des „anarchistischen Kommunismus“ der wieder eine bürgerliche „Übergangsgesellschaft“, also eine weitere Variante von Staatskapitalismus erzeugen würde. Da diese „kommunistischen Anarchisten“ aber leugnen, dass sie damit nur ihre dogmatische Diktatur errichten würden, ist die Verständigung auf einer wissenschaftlichen Ebene mit ihnen schlecht möglich. Darum entscheidet sich diese Auseinandersetzung beim Kampf um eine demokratische Mehrheit und einen demokratischen Staatsaufbau, der allen Menschen ihre Souveränität belässt.

3. Der Text von A. Berkman entspricht seinem oberflächlichen Bildungsstand und ist mit naiven Banalitäten angefüllt, die ihre Umsetzbarkeit nicht anschaulich unter Beweis stellen können.

An Stelle von „Selbstverwaltung“ der Menschen, rückt er gleich in seinem ersten Absatz die „Selbstverwirklichung“ jedes einzelnen Menschen ins Zentrum des „kommunistischen Anarchismus“ und verkennt dabei, dass es in einer Gesellschaft nicht um einen einzelnen Menschen, sondern um die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen zueinander geht. Natürlich entspricht diese Sichtweise dem kleinbürgerlichen Individualismus, aber nicht einer Theorie über eine menschliche Gesellschaft.

Im zweiten Absatz möchte er nicht das Eigentum, sondern den „Privatbesitz“ abschaffen. Dadurch wird klar, dass er weder von der praktischen, noch von der juristischen Bedeutung des Begriffes „Privatbesitz“ eine Ahnung hatte, was ihm vielleicht im Vergleich zum Begriff „Privateigentum“ hätte auffallen können, doch dafür hätte er Anleitung und Ausbildung benötigt.

Er treibt seine Absurditäten schon im dritten Absatz auf die Spitze und ins Lächerliche, weil er keinen „Privatbesitz“ mehr zulassen will.

Stellen wir mal ein paar Fragen:

A) Welche Gewalt verhindert die von A. Berkman behaupteten privaten Besitznahmen im „kommunistischen Anarchismus“ ?

B) Wer entscheidet im „kommunistischen Anarchismus“ darüber, dass private Besitznahmen verboten sind, etwa ein Gesetz, ein Dekret, oder was?

C) Wenn eine private Besitznahme im „kommunistischen Anarchismus“ verboten ist, dann gibt es also nur noch vergesellschafteten Besitz, aber wer genau ist dann der Besitzer meiner Hose, meines Hemdes und meiner Schuhe?

D) Erinnert uns das Verbot des „Privatbesitzes“ nicht an das Ziel des WEF und der Aussage von K. Schwaab: „Ihr werdet nichts mehr besitzen und ihr werdet Glücklich sein“? (Vermutlich hat K. Schwaab ebenfalls Besitz und Eigentum verwechselt.)

E) Ist es nicht so, dass wenn aller Privatbesitz per Gesetz oder Ähnlichem im „kommunistischen Anarchismus“ vergesellschaftet wird, wir die Existenz einer Legislative und eine Exekutive erkennen und damit mindestens rudimentäre Staatsgewalten die den Gemeinbesitz faktisch als Staatsbesitz verwalten?

F) Was ist das von A.+Berkman behauptete „öffentliche Eigentum“, wer erhält den schriftlich beglaubigten Eigentumstitel dafür und wer genau hat die Verfügungsgewalt über dieses Eigentum?

G) Welche Gewalt stellt die von A. Berkman angenommenen „nicht“ faulen Menschen im „kommunistischen Anarchismus“ an ihren „richtigen Platz“, damit sie dort beweisen können, dass sie nicht faul sind?

H) Wie schafft der „kommunistische Anarchismus“ Kriege ab, per Gesetz, Dekret usw. und was ist mit der Abschaffung des Rechts auf Ausbeutung durch Eigentum, was die Kriege erst in die Welt gebracht hat?

I) Wie will der „kommunistische Anarchismus“ die soziale Gleichheit der Menschen herstellen, ohne das Eigentumsrecht, also das Recht zur Ausbeutung durch Eigentum, zu beseitigen?

Ich erkenne den guten Willen von A Berkman in allen Bereichen die er versucht zu bearbeiten, aber es fehlt ihm einfach das Vermögen, einen praktikablen Ausweg aus dem gesellschaftlichen Dilemma aufzuzeigen. Statt dessen präsentiert er einen Mischmasch aus anarchistisch individualisierter Freiheit und der Gewaltherrschaft eines zentralistischen Staates, was bei ihm ganz offensichtlich nicht bis zu seiner Bewusstseinsebene vordringen konnte.

Gerade das Missverständnis von A. Berkman darüber was Autoritarismus ist und wie echte Autorität durch Leistung entsteht, durch die Menschen sich für eine ganz bestimmte Aufgabe empfehlen, lässt ihn nicht erkennen, dass er für ein ganz bestimmten Publikumskreis zum Thema „ABC des Anarchismus“, eine Autorität auf diesem Gebiet darstellt. Ich kann ihm diese „Autorität“ bei mir leider nicht bezeugen.

J.M.Hackbarth

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Von Redaktion

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