Kommentare zu “ABC des Anarchismus” aus “Free21”

„FUCK THE SYSTEM!“ – Anarchismus – (Wikimedia Commons): Fotomontage
[Der Aufstand 36/23, Seite 8]
 Podcast, Stimme: Omega.
Weitere Stimmen: Lambda, Sigma

Kommentare zu “ABC des Anarchismus” aus “Free21”

Fortsetzung aus 35/23

ABC des Anarchismus – Teil 1

Free21 stellt in unregelmäßiger Reihenfolge Text vor, die nicht real-existierende Gesellschaftsentwürfe beschreiben, als Anregung zum Denken. Dieser Text von Alexander Berkman, der 1929 in englischer Sprache erschien, stammt von einem der bedeutendsten Theoretiker des Anarchismus, der heute fast in Vergessenheit geraten ist. Sein Text war und ist eine ausgezeichnete Einführung in die Vorstellungswelt der Anarchisten. Er zeichnet sich durch ihre klare, einfache und leicht verständliche Sprache aus. Einen Ausschnitt dieser lesenswerten Schrift stellt Free21 in zwei Teilen vor. Vorschläge für die Rubrik Utopie sind willkommen!

Von Alexander Berkman

Published On: 10. August 2023

Kategorien: Utopie

ABC des Anarchismus – Teil 1

Dieser Text wurde zuerst auf www.anarchismus.at unter der URL <https://www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/alexander-berkman/83-alexander-berkman-abc-des-anarchismus> veröffentlicht. Lizenz: anarchismus.at, CC BY-NC-SA 3.0 DE

Hier als Serie eingereicht und mit Kommentaren versehen von J.M.Hacbarth.

Der Teil 1 von „Free21“wurde hier wegen seiner Größe in einem Teil 1.1 und einen Teil 1.2 zerlegt. Das ist hier ist die Fortsetzung aus der Ausgabe 35/23.

Was ist Anarchismus?

„Können Sie mir kurz erklären“, fragt Ihr Freund, „was Anarchismus ist?“ Ich werde es versuchen. Kurz gesagt, der Anarchismus lehrt, dass wir in einer Gesellschaft frei von Zwang irgendwelcher Art leben können.

Ein Leben ohne Zwang bedeutet natürlich Freiheit; das heißt frei zu sein von Druck und Zwang, die Möglichkeit so zu leben, wie es Ihnen gefällt. Solch ein Leben können Sie aber nicht führen, bevor Sie nicht die Institutionen abschaffen, die Ihre Freiheit einschränken und in Ihr Leben eingreifen, sowie die Zustände, die Sie anders handeln lassen, als Sie eigentlich wollen.

Welche Institutionen und Zustände sind das? Lassen Sie uns prüfen, was wir abschaffen müssen, um ein freies und harmonisches Leben führen zu können. Wenn wir erst einmal wissen, was abgeschafft und durch was es ersetzt werden muss, dann werden wir auch einen Weg zur Verwirklichung finden. Was muss also abgeschafft werden, um die Freiheit zu erlangen?

Zuerst natürlich einmal das, was am meisten in Ihr Leben eingreift, was Ihre Handlungsfreiheit stört oder einschränkt; das, was Ihnen die Freiheit nimmt und anders zu leben zwingt, als Sie es nach eigener Wahl tun würden.

Das ist die Regierung. Wenn Sie sie genau überprüfen, werden Sie erkennen, dass die Regierung der schlimmste Störenfried ist; mehr als das, der größte Verbrecher, den die Menschen je gekannt haben. Sie füllt die Welt mit Gewalt, Betrug und Täuschung, mit Unterdrückung und Elend aus. Wie ein großer Philosoph einmal sagte: „Ihr Atem ist Gift.“ Sie verdirbt alles, was sie anfasst. „Ja, die Regierung bedeutet Gewalt und ist ein Übel“, geben Sie zu, „aber können wir ohne sie auskommen?“

Genau darüber wollen wir diskutieren. Wenn ich Sie jetzt frage, ob Sie eine Regierung brauchen, so bin ich sicher, dass Sie nein sagen würden, aber dass die anderen sie brauchen. Aber wenn Sie einen der „anderen“ fragen, wird er wie Sie antworten: Er wird sagen, dass er sie nicht braucht, aber dass sie „für die anderen“ notwendig ist. Warum glaubt jeder, dass er auch ohne Polizist anständig genug ist, aber dass der Knüppel „für andere“ benötigt wird?

„Die Menschen würden einander berauben und ermorden, wenn es keine Regierung und kein Gesetz gäbe“, sagen Sie. Wenn sie es wirklich tun würden, warum wäre das so? Würden sie es einfach um des Vergnügens willen oder aus einem bestimmten Grund tun? Wenn wir ihre Beweggründe untersuchen, dann werden wir vielleicht ein Heilmittel entdecken.

Stellen Sie sich vor, dass Sie, ich und ein paar andere Schiffbruch erlitten hätten und uns auf einer Insel voll von Früchten aller Art wiederfinden. Natürlich würden wir erst einmal gemeinsam Nahrung sammeln. Aber angenommen, einer von uns würde erklären, dass alles ihm gehöre und keiner nur einen Bissen bekommt, bevor er ihm nicht einen Tribut gezahlt hätte. Wir wären entrüstet, nicht wahr? Wir würden über seine Ansprüche lachen. Wenn er versuchen sollte, deswegen Schwierigkeiten zu machen, würden wir ihn vielleicht ins Meer werfen, und geschähe ihm recht, nicht wahr? Nehmen Sie weiterhin an, dass, wir selbst und unsere Vorväter eine Insel kultiviert und mit allem versehen hätten, was zu Leben und Wohlstand notwendig ist, und dann käme einer daher und würde behaupten, dass alles ihm gehöre. Was würden wir sagen? Wir würden ihn ignorieren, nicht wahr? Vielleicht würden wir ihm sagen, dass er seinen Beitrag leisten und sich an der Arbeit beteiligen kann. Aber angenommen, dass er auf seinem Eigentumsrecht besteht und ein Stück Papier vorzeigt und nachweist, dass alles ihm gehöre. Was würden wir sagen? Wir würden ihm sagen, dass er verrückt ist, und wieder unserer Arbeit nachgehen.

Aber wenn er eine Regierung hinter sich stehen hätte, dann würde er sie zum Schutz „seiner Rechte“ anrufen, und die Regierung würde Polizisten und Soldaten entsenden, die uns vertreiben und dem „rechtmäßigen Eigentümer“ seinen Besitz zurückgeben würden.

Das ist die Funktion der Regierung, dafür ist sie da und so handelt sie ständig. Glauben Sie nun immer noch, dass wir uns ohne dieses Ding, das sich Regierung nennt, gegenseitig berauben und ermorden würden? Ist es nicht eher so, dass wir mit einer Regierung rauben und morden? Weil die Regierung unseren rechtmäßigen Besitz nicht schützt, sondern – im Gegenteil – ihn uns sogar zum Vorteil derer wegnimmt, die kein Recht darauf haben, wie wir schon in früheren Kapiteln gesehen haben. Wenn Sie morgen Früh aufwachen und erfahren sollten, dass es keine Regierung mehr gibt, würde dann Ihr erster Gedanke sein, auf die Straße zu stürzen und jemand umzubringen? Nein, Sie wissen, dass das Unsinn ist. Wir sprechen über gesunde, normale Menschen. Kranke gehören in die Obhut von Ärzten und Psychiatern und sollten in Krankenhäuser gebracht und behandelt werden. Wenn Sie oder Herr Johnson aufwachen und keine Regierung mehr vorfinden, so wird es eher so sein, dass Sie beide sich eifrig bemühen werden, Ihr Leben den neuen Bedingungen anzupassen.

Es ist natürlich auch sehr gut möglich, dass Sie Essen fordern werden, wenn Sie Menschen sehen, die sich vollstopfen, während Sie hungrig sind; und Sie würden damit vollkommen recht haben. Genauso würde es jeder andere tun. Das heißt, dass die Menschen nicht für jemanden eintreten würden, der all die guten Dinge des Lebens an sich reißt. Sie möchten daran Anteil haben. Das heißt auch, dass die Armen sich weigern würden, weiterhin in Armut zu leben, während die anderen in Luxus schwelgen. Das heißt, der Bauer wird nicht zulassen, dass tausende Hektar Land brachliegen, während er nicht über genug Boden verfügt, um sich und seine Familie zu ernähren. Das heißt, das keinem erlaubt wird, das Monopol an Land oder an den Produktionsmitteln an sich zu reißen. Das heißt, dass privates Eigentum an den Lebensgrundlagen nicht mehr länger toleriert würde. Es würde als das größte Verbrechen angesehen, wenn einige mehr besäßen als sie selbst in mehreren Leben verbrauchen können, während ihre Nachbarn nicht genug Brot für ihre Kinder haben. Das heißt, dass alle Menschen am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben und beitragen, diesen Reichtum zu schaffen. Das heißt nichts weiter, als dass zum ersten Mal in der Geschichte Recht, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung statt des Gesetzes siegen würden. Sie sehen also, die Abschaffung der Regierung hat auch die Beseitigung von Monopol und Privateigentum an den Produktions- und Vertriebsmitteln zur Folge.

Daraus folgt, mit der Abschaffung der Regierung verschwinden auch Lohnsklaverei und Kapitalismus, da sie ohne Unterstützung und Schutz der Regierung nicht bestehen können. Ähnlich wie der verrückte Anspruch des Mannes, von dem ich vorher sprach, der ein Monopol auf der Insel ohne Hilfe der Regierung nicht durchsetzen konnte. Der Zustand, in dem Freiheit eine Regierung ersetzt, wäre Anarchie. Und dort, wo gleichberechtigte Nutznießung an die Stelle von Privateigentum tritt, wäre Kommunismus. Es wäre ein kommunistischer Anarchismus.

„Oh, Kommunismus“, ruft Ihr Freund aus, „aber Sie sagten doch, Sie wären kein Bolschewist!“ Nein, ich bin kein Bolschewist, denn ein Bolschewist will eine starke Regierung oder einen mächtigen Staat, wogegen der Anarchist Staat oder Regierung ganz und gar abschaffen will. „Aber sind die Bolschewisten keine Kommunisten?“ fragen Sie. Doch, die Bolschewisten sind Kommunisten, aber sie brauchen ihre Diktatur, ihre Regierung, um die Menschen zu zwingen, im Kommunismus zu leben. Anarchistischer Kommunismus ist dagegen ein freiwilliger Kommunismus, ein Kommunismus aus freier Wahl.„Ich verstehe den Unterschied, das wäre natürlich wunderbar“, gibt Ihr Freund zu. „Aber halten Sie das wirklich für möglich?“

Ist Anarchie möglich?

„Es wäre nur möglich“, sagen Sie, „wenn wir ohne Regierung leben könnten. Aber geht das?“ Vielleicht können wir Ihre Frage am besten beantworten, wenn wir Ihr eigenes Leben untersuchen.

Welche Rolle spielt die Regierung in Ihrem Leben? Hilft sie Ihnen leben? Ernährt, kleidet und beherbergt sie Sie? Brauchen Sie sie als Hilfe bei der Arbeit oder beim Spiel? Wenn Sie krank sind, rufen Sie dann den Arzt oder die Polizei? Kann Ihnen die Regierung größere Fähigkeiten geben, als Sie bereits von Natur aus besitzen?

Betrachten Sie Ihr tägliches Leben und Sie werden feststellen, dass die Regierung in Wirklichkeit keine Rolle darin spielt, außer, wenn es darum geht sich in Ihre ureigenen Angelegenheiten einzumischen, Sie zu gewissen Dingen zu zwingen oder Ihnen andere zu verbieten. Sie zwingt Sie zum Beispiel, Steuern zu zahlen und sie zu unterstützen, ob Sie wollen oder nicht. Sie zwingt Sie, eine Uniform anzulegen und in die Armee einzutreten. Sie greift in Ihr persönliches Leben ein, kommandiert Sie herum, übt Zwang auf Sie aus, schreibt Ihnen Ihr Verhalten vor und behandelt Sie im allgemeinen so, wie es ihr gefällt. Sie sagt Ihnen sogar, was Sie glauben müssen und straft Sie, wenn Sie anders denken oder handeln. Sie bestimmt, was Sie essen und trinken dürfen und verhaftet oder erschießt Sie bei Ungehorsam. Sie befiehlt Ihnen und beherrscht jeden Schritt in Ihrem Leben. Sie behandelt Sie wie ein unartiges, unmündiges Kind, das die strenge Hand eines Behüters braucht. Aber wenn Sie ungehorsam sind, dann werden Sie trotzdem von ihr verantwortlich gemacht.

Wir werden später auf die Einzelheiten eines Lebens in der Anarchie eingehen und sehen, welche Bedingungen und Institutionen in einer solchen Gesellschaftsform bestehen, wie sie funktionieren und welche Auswirkungen sie wahrscheinlich auf den Menschen haben werden.

Jetzt wollen wir erst einmal sicherstellen, ob solch ein Zustand möglich und ob Anarchie praktizierbar ist. Wie verläuft das Leben eines Durchschnittsmenschen heute? Die meiste Zeit verbringen Sie damit, Ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das Verdienen des Lebensunterhalts beansprucht Sie so sehr, dass Ihnen kaum Zeit bleibt zu leben – und das Leben zu genießen. Weder die Zeit noch das Geld. Sie haben Glück, wenn Sie überhaupt eine Unterhaltsquelle, einen Job, haben. Ab und zu kommt eine Flaute: Dann gibt es Arbeitslosigkeit, und Tausende werden entlassen – jedes Jahr, in jedem Land.

Diese Zeit bedeutet: Kein Einkommen, keine Löhne. Ihre Folgen sind Sorgen und Entbehrung, Krankheit, Verzweiflung und Selbstmord. Armut und Kriminalität breiten sich aus. Um die Armut zu mildern, bauen wir Wohlfahrtsheime, Armenhäuser, freie Krankenhäuser, die Sie mit Ihren Steuern unterhalten. Um Verbrechen zu verhindern und Kriminelle zu bestrafen, sind Sie es wieder, die Polizei, Detektive, Staatstruppen, Richter, Rechtsanwälte, Gefängnisse und Gefängniswärter finanzieren müssen. Können Sie sich etwas Unsinnigeres und etwas Unpraktischeres vorstellen? Die Gesetzgeber beschließen Gesetze, die Richter interpretieren sie, die verschiedenen Beamten führen sie aus, die Polizei verfolgt und verhaftet den Kriminellen und schließlich kommt er in den Gewahrsam des Gefängniswärters. Zahllose Personen und Institutionen sind eifrig damit beschäftigt, den arbeitslosen Mann vom Stehlen abzuhalten und ihn zu bestrafen, wenn er es doch versucht. Dann wird er mit den zum Leben nötigen Dingen versorgt, deren Mangel aber überhaupt erst dazu führt, dass er das Gesetz übertrat. Nach kürzerer oder längerer Zeit wird er wieder freigelassen. Falls es ihm nicht gelingt Arbeit zu finden, beginnt derselbe Kreislauf von Diebstahl, Verhaftung, Gerichtsverhandlung und Gefängnis wieder von vorn.

Dies ist zwar eine grobe aber doch treffende Beschreibung der unsinnigen Beschaffenheit unseres Systems; dumm und ineffektiv. Und Gesetz und Regierung schützen dieses System. Ist es nicht merkwürdig, dass die meisten Menschen glauben, nicht ohne Regierung auskommen zu können, wo doch in Wirklichkeit unser Leben überhaupt keine Verbindung mit ihr und keinen Bedarf an ihr hat und nur dann in Konflikt gerät, wenn das Gesetz und die Regierung in Erscheinung treten?

Anarchist Alexander Berkman spricht auf dem Union Square, NYC 1. Mai 1914, (Gemeinfrei)

„Aber werden wir Sicherheit und öffentliche Ordnung“, wenden Sie ein, „ohne Gesetz und Regierung haben? Wer wird uns gegen Kriminelle schützen?“ In Wahrheit stellt in Wirklichkeit das, was man „Gesetz und Ordnung“ nennt, die größte Unordnung dar, wie wir in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben. Das bisschen Ordnung und Frieden, das wir haben, verdanken wir dem gesunden Menschenverstand, den die Menschen meist trotz Regierung in gemeinsamen Bemühungen entwickeln. Brauchen Sie etwa eine Regierung, die Ihnen sagt, nicht vor ein fahrendes Auto zu laufen? Muss Sie Ihnen vorschreiben, nicht von der Brooklyn-Brücke oder dem Eiffelturm zu springen?

Der Mensch ist ein soziales Wesen: Er kann nicht allein existieren; er lebt in Gemeinden oder Gesellschaften. Gemeinsame Bedürfnisse und gemeinsame Interessen führen zu bestimmten Ordnungen, die uns Sicherheit und Wohlbefinden bieten. Eine solche Zusammenarbeit ist frei, freiwillig; sie bedarf keines Zwanges durch irgendeine Regierung. Sie treten einem Sport- oder Gesangverein bei, weil Ihre Neigungen in dieser Richtung liegen, und Sie arbeiten mit anderen Mitgliedern zusammen, ohne dass Sie jemand dazu zwingt. Der Wissenschaftler, der Schriftsteller, der Künstler und der Erfinder suchen ihresgleichen zur Anregung und gemeinsamen Arbeit: Die Einmischung irgendeiner Regierung oder Autorität kann ihre Vorhaben nur behindern.

Ihr ganzes Leben lang erfahren Sie, dass ihre Bedürfnisse und Neigungen die Menschen zu Vereinigungen, gegenseitigem Schutz und Hilfeleistungen führen. Das ist der Unterschied zwischen Dingen regeln und Menschen regieren, zwischen etwas freiwillig oder aus Zwang tun. Es macht den Unterschied zwischen Freiheit und Zwang aus, zwischen Anarchismus und Regierung, denn Anarchismus bedeutet freiwillige Zusammenarbeit anstatt erzwungener Teilnahme. Er meint Harmonie und Ordnung anstelle von Einmischung und Unordnung.

„Aber wer wird uns vor Verbrechen und Verbrechern schützen?“ fragen Sie. Fragen Sie sich lieber, ob uns die Regierung wirklich davor schützt. Schafft und hält die Regierung nicht selbst die Zustände aufrecht, die das Verbrechen fördern? Kultivieren nicht Einmischung und Gewalt, worauf alle Regierungen beruhen, den Geist der Intoleranz und Verfolgung, des Hasses und von noch mehr Gewalt? Steigt das Verbrechen nicht mit dem Anwachsen der durch die Regierung verursachten Armut und Ungerechtigkeit an? Ist die Regierung nicht selbst die größte Ungerechtigkeit und das größte Verbrechen? Kriminalität ist das Ergebnis wirtschaftlicher Bedingungen, sozialer Ungerechtigkeit, von Unrecht und Übel, deren Eltern Regierung und Monopol sind.

Die Regierung und das Gesetz kann den Kriminellen nur strafen. Durch sie wird ein Verbrechen weder gutgemacht noch verhindert. Das einzig richtige Heilmittel gegen Kriminalität wäre die Beseitigung ihrer Ursachen, aber gerade das kann die Regierung niemals tun, denn sie ist ja dazu da, die dafür verantwortlichen Bedingungen zu bewahren. Kriminalität kann nur dadurch ausgemerzt werden, dass man die sie hervorrufenden Zustände abschafft. Eine Regierung kann das nicht.

Anarchismus beseitigt die Zustände. Kriminalität als Ergebnis von Regierung, von ausgeübter Unterdrückung und Ungerechtigkeit, von Ungleichheit und Armut, wird unter einer Anarchie verschwinden. Diese Punkte bedingen den bei weitem größten Prozentsatz des Verbrechens. Gewisse andere Verbrechen werden noch einige Zeit fortbestehen, und zwar solche, die auf Eifersucht, Leidenschaft und dem heute die Welt beherrschenden Geist von Zwang und Gewalt beruhen. Aber diese Abkömmlinge von Gewalt und Besitzanspruch werden unter gesunden Verhältnissen gleichzeitig mit dem Vergehen der sie fördernden Atmosphäre auch allmählich verschwinden.

Anarchie wird daher weder Kriminalität züchten, noch den Boden für ihr Gedeihen bereiten. Gelegentlich vorkommende antisoziale Handlungen werden als Überbleibsel der früheren Zustände und Verhaltensweisen betrachtet werden und eher wie ein krankhafter Geisteszustand als wie ein Verbrechen behandelt. Die Anarchie würde den „Kriminellen“ zuallererst verpflegen und ihm Arbeit verschaffen, anstatt ihn zuerst zu beobachten, zu verhaften, vor Gericht zu bringen und einzusperren, um ihn dann endlich zu verpflegen und zusätzlich auch noch die vielen anderen, die ihn beobachten und verpflegen müssen. Sicherlich zeigt gerade dieses Beispiel, wie viel empfindsamer und unkomplizierter das Leben im Anarchismus als das heute wäre.

Die Wahrheit ist, dass die gegenwärtige Lebensweise unpraktisch, kompliziert, verwirrend und in jeder Hinsicht unbefriedigend ist. Darum gibt es so viel Elend und Unzufriedenheit. Der Arbeiter ist unzufrieden, auch der Boss ist nicht glücklich, denn er lebt in ständiger Angst vor „schlechten Zeiten“, die den Verlust seines Besitzes und seiner Macht mit sich bringen können. Das Gespenst der Angst vor der Zukunft verfolgt die Schritte der Armen genauso wie die der Reichen. Der Arbeiter hat sicherlich durch eine Umwandlung des Zustands mit Regierung und Kapitalismus in einen ohne Regierung, d.h. Anarchie, nichts zu verlieren. Die Mittelklassen sind in ihrer Existenz fast genauso bedroht wie die Arbeiterschaft. Sie sind auf den guten Willen der Hersteller und Großhändler, der großen Industriekonzerne und des Kapitals angewiesen und deswegen ständig von Bankrott und Ruin bedroht.

Selbst der große Kapitalist hat bei einem Wechsel des gegenwärtigen Systems in ein anarchistisches wenig zu verlieren, da darin Leben und Wohlstand eines jeden garantiert werden; die Angst vor dem Wettbewerb würde mit der Abschaffung des Privateigentums verschwinden. Jedem einzelnen würde es unbehindert möglich sein, sein Leben entsprechend seiner Möglichkeiten bis zum äußersten auszuschöpfen und zu genießen. Hinzu kommt noch das Bewusstsein von Frieden und Harmonie, das Gefühl, das mit der Unabhängigkeit von finanziellen und materiellen Sorgen entsteht; die Erkenntnis, dass Sie in einer freundlichen Welt ohne Neid oder Geschäftsrivalitäten leben, die Ihre Gedanken stören; in einer Welt von Brüdern; in einer Atmosphäre der Freiheit und des allgemeinen Wohlstands.

Es ist fast unmöglich, sich all die großartigen Möglichkeiten auszudenken, die sich den Menschen in einer Gesellschaft des kommunistischen Anarchismus eröffnen würden. Der Wissenschaftler könnte sich völlig seiner geliebten Forschung widmen, ohne sich um sein tägliches Brot sorgen zu müssen. Dem Erfinder würde jede Anlage zur Verfügung stehen, um mit seinen Entdeckungen und Erfindungen die Menschlichkeit zu fördern. Der Schriftsteller, der Dichter, der Künstler – sie alle würden auf den Flügeln der Freiheit und gesellschaftlichen Harmonie zu größeren Leistungen getragen.

Erst dann würden Gerechtigkeit und Recht zu dem werden, was sie eigentlich sein sollen. Unterschätzen sie nicht die Rolle dieser Empfindungen im Leben eines Menschen oder eines Volkes. Wir leben nicht von Brot allein. Richtig, nur wenn wir unsere körperlichen Bedürfnisse befriedigen können, ist unsere Existenz gesichert. Aber deren Befriedigung macht nur einen Teil des Lebens aus. Unser gegenwärtiges Kultursystem hat, indem es Millionen ausstößt, den Bauch sozusagen zum Mittelpunkt des Universums gemacht. Da eine vernünftige Gesellschaftsform so geartet ist, dass alle reichlich versorgt werden, stellt die Erhaltung der bloßen Existenz definitionsgemäß kein Problem dar, d.h. der gesicherte Unterhalt ist so selbstverständlich und frei verfügbar wie die Luft zum Atmen. Die Gefühle menschlicher Sympathie, für Gerechtigkeit und Recht würden sich entwickeln können, befriedigt werden, sich erweitern und wachsen können. Sogar heute ist der Sinn für Gerechtigkeit und Fairness in den Herzen der Menschen, trotz jahrhundertelanger Repression und Perversion noch lebendig. Er ist nicht ausgerottet worden und kann auch nicht ausgerottet werden, weil er dem Menschen wie ein Instinkt angeboren ist, so stark wie der Selbsterhaltungstrieb und genauso wichtig für unser Glück ist. Denn nicht alles Elend auf der heutigen Welt ist durch Fehlen von materiellem Wohlstand bedingt. Die Menschen können Hunger eher ertragen als das Wissen um Ungerechtigkeit. Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, wird sie genauso schnell und vielleicht noch schneller zu Protest und Rebellion treiben als Hunger. Hunger kann die unmittelbare Ursache für eine Rebellion oder einen Aufstand sein, aber dahinter steht die schlummernde Feindschaft und der Hass der Massen gegen jene, durch deren Hand sie Ungerechtigkeit und Unrecht erleiden müssen. In Wahrheit spielen Recht und Gerechtigkeit eine weit wichtigere Rolle in unserem Leben, als allgemein angenommen wird. Die das bestreiten wollen, wissen über die menschliche Natur genauso wenig wie über die Geschichte. Tagtäglich sehen Sie immer wieder Menschen, die sich über etwas empören, was sie als Unrecht ansehen. „Das ist nicht richtig“, lautet der instinktive Protest eines Menschen, der sich ungerecht behandelt fühlt. Sicherlich hängt die Auffassung von Recht und Unrecht jedes einzelnen von seiner Tradition, Umgebung und Erziehung ab.

Aber welche Vorstellungen er auch haben mag, ihn lässt sein naturgegebener Instinkt alles ablehnen, was er als falsch und ungerecht ansieht. Auch historisch gesehen bleibt das wahr. Mehr Aufstände und Kriege sind für die Idee von Recht und Unrecht, als aus materiellen Gründen begonnen worden. Marxisten mögen einwenden, dass unsere Ansichten über Recht und Unrecht ebenfalls durch ökonomische Bedingungen geformt werden, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass der Sinn für Recht und Gerechtigkeit Menschen bis hin zu Heldentum und Selbstaufopferung begeistert hat.

Die Christen und Buddhisten wurden nie von materiellen Überlegungen geleitet, sondern nur von ihrer Hingebung an Recht und Gerechtigkeit. Die Bahnbrecher neuer Ideen haben Verleumdung, Verfolgung und sogar den Tod nicht aus egoistischen Motiven auf sich genommen, sondern weil sie von der Gerechtigkeit ihrer Sache überzeugt waren. Menschen wie Johann Hus, Luther, Bruno, Savonarola, Galilei und zahllose andere religiöse und dem Sozialismus ergebene Idealisten kämpften und starben für die von ihnen als gerecht erkannte Sache. Ebenso haben Menschen in Wissenschaft, Philosophie, Kunst, Dichtung und Erziehung von Sokrates bis hin in die moderne Zeit ihr Leben in den Dienst der Wahrheit und Gerechtigkeit gestellt.

Im Bereich des politischen und sozialen Fortschritts haben sich die edelsten Menschen, beginnend mit Moses und Spartakus, Idealen wie Freiheit und Gleichheit geweiht. Die unwiderstehliche Macht eines Idealismus findet sich nicht nur bei herausragenden Individuen. Die Massen wurden dadurch immer schon begeistert. Beispielsweise begann der amerikanische Unabhängigkeitskrieg mit einer allgemeinen Empörung in den Kolonien über die Ungerechtigkeit einer Besteuerung, die ohne jegliches Mitspracherecht vom Mutterland festgesetzt wurde. Zweihundert Jahre lang versuchten Christen das Heilige Land in Kreuzzügen für die Christenheit zu erobern. Dieses religiöse Ideal begeisterte sechs Millionen Menschen, sogar Armeen von Kindern, die im Namen von Recht und Gerechtigkeit unsagbaren Mühsalen, Seuchen und Tod trotzten. Sogar im letzten Weltkrieg, so kapitalistisch er in Ursache und Ergebnis auch gewesen ist, kämpften Millionen Menschen im tiefen Glauben, dass er für eine gerechte Sache, für Demokratie und zur Beendigung aller Kriege geführt wurde. So hat der Sinn für Gerechtigkeit und Recht die Menschen individuell und kollektiv in ihrer gesamten Geschichte, sowohl der weit zurückliegenden als auch der modernen, zu Taten der Selbstaufopferung und Hingabe begeistert und sie weit über die Eintönigkeit des täglichen Lebens erhoben. Es ist natürlich tragisch, dass dieser Idealismus sich in Verfolgung und Gewalt äußerte, aber die Bösartigkeit und der Egoismus der Könige, Priester und Herrscher, die Unwissenheit und der Fanatismus führte dazu. Trotzdem war der Geist, von dem die Menschen erfüllt waren, der von Recht und Gerechtigkeit. Die in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen beweisen, dass dieser Geist immer lebendig bleibt und im gesamten Bereich des menschlichen Lebens einen machtvollen und beherrschenden Faktor darstellt.

The ABC of Communist Anarchism”, Vorwort von Emma Goldman. New York: Freie Arbeiter Stimme, 1937.

Die gegenwärtigen Zustände schwächen und verfälschen dieses höchst edle Merkmal der Menschen, pervertieren seine Manifestation und verdrehen es in Richtung von Intoleranz, Verfolgung, Hass, und Streit. Aber wenn der Mensch erst einmal von den korrumpierenden Einflüssen materieller Interessen befreit ist, aus Unwissenheit und Klassenfeindschaft herausgeholt wird, dann wird sein angeborener Sinn für Recht und Gerechtigkeit neue Ausdrucksformen finden, Formen, die zu größerer Brüderlichkeit und gutem Willen, zu individuellem Frieden und sozialer Harmonie führen.

Nur in der Anarchie könnte sich diese Geisteshaltung voll entwickeln. Befreit vom herabwürdigenden und brutalisierenden Kampf um unser tägliches Brot würden sich, da alle in gleicher Weise an Arbeit und Wohlstand teilhaben, die besten Qualitäten des menschlichen Wesens und Verstandes entwickeln können und nützliche Anwendung finden. Der Mensch würde dann in der Tat zu dem edlen Werk der Natur werden, das er sich bisher nur in seinen Träumen ausmalen konnte. Aus diesen Gründen ist Anarchie nicht nur das Ideal für einen bestimmten Menschen oder eine bestimmte Klasse, sondern für die ganze Menschheit, weil sie im erweiterten Sinne uns allen dienen würde. Denn Anarchismus ist der Ausdruck für einen universalen, immerwährenden Wunsch der Menschheit. Darum müsste jeder Mann und jede Frau ein vitales Interesse haben, die Anarchie zu verwirklichen. Sie würden es sicherlich tun, wenn sie nur die Schönheit und Gerechtigkeit dieses neuartigen Lebens begreifen könnten. Jedes menschliche Wesen, dem es nicht an Gefühl und gesundem Menschenverstand mangelt, neigt zum Anarchismus. Jeder, der unter Unrecht und Ungerechtigkeit, unter Bösartigkeit, Korruption und Gemeinheit unseres heutigen Lebens leidet, sympathisiert instinktiv mit der Anarchie. Jeder, dessen Herz nicht abgestorben ist im Hinblick auf Güte, Mitleid und Nächstenliebe, muss daran interessiert sein, sie zu fördern. Jeder, der Armut und Elend, Tyrannei und Unterdrückung erduldet, müsste das Herannahen der Anarchie begrüßen. Alle, die Freiheit und Gerechtigkeit lieben, sollten zu ihrer Verwirklichung beitragen.

Allen voran und am stärksten müssten alle Unterworfenen und Unterdrückten in der Welt ein Interesse daran haben. Jene, die Paläste bauen und in Elendshütten leben; jene, die den Tisch des Lebens decken, aber nicht an der Mahlzeit teilnehmen dürfen; jene, die den Reichtum der Welt schaffen und enteignet werden; jene, die das Leben mit Freude und Sonnenschein erfüllen, aber selbst in den Tiefen der Dunkelheit verachtet zurückbleiben; der Samson des Lebens, der seiner Kraft durch Angst und Unwissenheit beraubt ist; der hilflose Riese Arbeiterschaft, das Proletariat der Intelligenz und Muskeln, die Massen in Industrie und Landwirtschaft – sie alle müssten die Anarchie freudig begrüßen. Für sie besitzt der Anarchismus die größte Anziehungskraft; sie sind es, die als erste und an erster Stelle auf den neuen Tag hinarbeiten müssen, der ihnen ihr Erbe zurückgeben und Freiheit und Wohlstand, Freude und Sonnenschein für die ganze Menschheit bringt. „Eine herrliche Sache“, bemerken Sie, „aber wird das funktionieren? Und wie sollen wir das erreichen?“

Quellen:

Alexander Berkman – ABC des Anarchismus. Verlag Klaus Guhl. 1978. S.3-21. USA Originaltitel: “What is Communist Anarchism?”. 1929

Über den Autor

Alexander Berkman, ursprünglich Owsei Ossipowitsch Berkman war ein Anarchist und Schriftsteller. Er war ein führender Aktivist der anarchistischen Bewegung in den USA und arbeitete dort eng mit Emma Goldman zusammen, organisierte Kampagnen für Menschenrechte und gegen den Krieg.

ENDE Teil 1

Kommentare von J.M.Hacbarth:

1. zum Abschnitt: Was ist Anarchismus?

A.Berkman konnte offensichtlich nicht auf eine solide politische Bildung zurück greifen und musste mit dem auskommen, was ihm so gelegentlich über den Weg gelaufen ist und was er aufgeschnappt hatte. Daraus entwarf er einen sehr naiven und unbrauchbaren Plan von einer „Freien Gesellschaft“, der offensichtlich von seiner kleinbürgerlichen Herkunft geprägt ist, die von der Praxis der Lohnsklaven und ihren kooperativen Regeln nicht all zu viel Ahnung hatte.

Eines seiner Hauptprobleme war, dass er keine Ahnung vom Aufbau des bürgerlichen Staates und dessen Funktionsweise hatte. Ihm ist überhaupt nicht klar, dass die Regierung nur die Exekutive des bürgerlichen Staates ist, also nur ein kleiner Teil des Staatsapparates. Die Exekutive hat aber nicht die Macht, sondern ist nur ein Machtinstrument der herrschenden Klasse der reichsten Eigentümer. Er erkennt also den Feind nicht wirklich, sondern nur dessen Dienstboten. Zitat:

Aber wenn er eine Regierung hinter sich stehen hätte, dann würde er sie zum Schutz „seiner Rechte“ anrufen, und die Regierung würde Polizisten und Soldaten entsenden, die uns vertreiben und dem „rechtmäßigen Eigentümer“ seinen Besitz zurückgeben würden.“

Gleichzeitig wird klar, dass er nicht wirklich zwischen „Eigentum“ und „Besitz“ unterscheiden konnte, weil er im obigen Zitat den Eigentümer dann plötzlich Besitzer nennt, aber die Besitzer wähnt er doch an dieser Stelle bereits vertrieben. Wenn man also keine klaren Vorstellungen von Staat, Eigentum und Besitz hat, dann kann man natürlich auch keine klare Vorstellung darüber entwickeln, wie diese Gesellschaft durch einen Umbau der Verhältnisse zu befrieden wäre. Da kann eben nur ein gut gemeinter, aber unbrauchbarer Versuch heraus kommen.

Da ich A.Berkman nicht mehr aufklären kann, versuche ich es mit den hiesigen Lesern. Zitat:

Das heißt, das keinem erlaubt wird, das Monopol an Land oder an den Produktionsmitteln an sich zu reißen.“

Im obigen Zitat verwehrt A.Beckman eine „Erlaubnis“, aber welches Organ solch eine „Erlaubnis“ erteilt, oder gewaltsam verweigern könnte, darauf geht er natürlich nicht ein. Eine Antwort auf solche Fragen kann er nicht geben und muss ausweichen, weil dann sein Flickwerk einfach zusammenbricht und sich als reine Träumerei erweist. Zitat:

Das heißt, dass privates Eigentum an den Lebensgrundlagen nicht mehr länger toleriert würde.“

Im obigen Zitat konzentriert er sich nur auf das „private Eigentum“, dass er nicht mehr tolerieren möchte und das weist ihn sofort als Staatskapitalisten aus, die sich in der Regel mit dem Wort Sozialisten tarnen. In diesem Moment hat er sich längst vom Gründer des Anarchismus Pierre-Joseph Proudhon und dessen Losung (jedes Eigentum ist Diebstahl am Besitz der Menschen, auch staatliches Eigentum) so weit entfernt, dass er schon rein ökonomisch nicht mehr als Anarchist gelten kann, denn für staatliches Eigentum, benötigt man einen Staat und eine Exekutive die darüber im Auftrag der Legislative verfügt. Natürlich haben dann wieder nicht alle Menschen die Verfügungsgewalt, was wieder zu Ungleichheit und Konflikten führt. An dieser Stelle sitzt A.Berkman bereits hoffnungslos in seiner kleinbürgerlichen Falle, weil er eine Beißhemmung gegen das kleinbürgerliche Eigentum offenbart.

Ihm war gar nicht klar, dass die Grundbedingung für soziale Gleichheit und politische Freiheit, die Abschaffung des Rechts auf Ausbeutung durch Eigentum ist. Doch wie er das Recht auf Ausbeutung beseitigt, davon hat er gar keinen Schimmer. Ihm ist nicht klar, dass sich jede Gesellschaft auf gemeinsame Regeln gründet, was in der Regel Verfassung genannt wird und das in dieser, das Recht auf Eigentum, durch das Recht auf Besitz ersetzt werden muss.

Ihm ist auch nicht klar, dass Besitz nicht durch bürokratische Regeln, Drohungen und Gewalt begrenzt wird, sondern durch das menschliche Leistungsvermögen, eine Quantität in Besitz zu nehmen. Eigentum hingegen, kann nur gesetzlich begrenzt werden, was natürlich nur bei den kleinen Eigentümern passiert, weil die Großen den Gesetzgeber, die Legislative einfach einkaufen.

Kurz gesagt, der Anarchismus lehrt, dass wir in einer Gesellschaft frei von Zwang irgendwelcher Art leben können.“

Das obige Zitat von A.Berkman ist angesichts seiner Drohungen, Menschen ins Meer zu werfen, Dinge nicht mehr zu tolerieren, Reiche gewaltsam zu berauben usw. einfach nur peinlich. Siehe auch Zitat unten:

Wenn er versuchen sollte, deswegen Schwierigkeiten zu machen, würden wir ihn vielleicht ins Meer werfen, und geschähe ihm recht, nicht wahr?“

Im Zitat unten tritt die Naivität von A.Berkman für jeden Lohnsklaven, der schon mal mit irgend einer Privatarmee (Werkschutz, usw.) der reichen Eigentümer zu tun hatte, hervor. Natürlich reicht es nicht, die Regierung zu beseitigen, man benötigt vor allem die Mehrheit der bewaffneten Kräfte im Staat (Armee und Polizei) auf der Seite der Lohnsklaven. Aber was macht man dann, wenn man diese auf seiner Seite hat, man errichtet einen Staat der Besitzer, welche uns gegen jeden Versuch des Raubes unseres Besitzes durch Eigentümer schützen kann, woher diese Angriffe auch immer kommen.

An dieser Stelle muss natürlich auch daran erinnert werden, dass Angriffe auf unseren Besitz vor allem von Außen drohen und wir deshalb internationale Unterstützung benötigen, also eine internationale Organisation, die möglichst international vorgeht und nicht nur national begrenzt ist. Im Zeitalter der imperialistischen Militärblöcke, sind nationale Alleingänge in Richtung Freiheit nicht mehr möglich. Zitat:

Sie sehen also, die Abschaffung der Regierung hat auch die Beseitigung von Monopol und Privateigentum an den Produktions- und Vertriebsmitteln zur Folge.“

Um auf das untere Zitat einzugehen, in dem A.Berkman immer wieder seine naiven Fehler fortschreibt, realisiert er nicht, dass wir eine eigene Verfassung und einen eigenen Staat benötigen, in dem die Staatsbürger die Legislative, also die Gesetzgeber sind und alle Staatsgewalten wie Exekutive, Judikative und Mediative nur mit an die Staatsbürger gebundenen Mandaten ausgestattet sein dürfen. Nur so können wir aus den Lohnsklaven souveräne Staatsbürger machen, die sich selbst als bewaffnetes Kollektiv, mit eigenen Regeln vor ihrer erneuten Versklavung schützen können. Zitat:

Daraus folgt, mit der Abschaffung der Regierung verschwinden auch Lohnsklaverei und Kapitalismus, da sie ohne Unterstützung und Schutz der Regierung nicht bestehen können.“

Im folgenden Zitat beschränkt er sich wieder auf die Abschaffung des „Privateigentums“, was schon sehr deutlich macht, dass er Staatseigentum im Sinne hat, also eine Form von Staatskapitalismus. Ihm war vermutlich auch nicht bekannt, dass sich in der ersten Internationale, der IAA, die Anarchisten und Kommunisten über ihr utopisches-naives Endziel einig waren: Kein Staat, kein Geld, keine Gefängnisse, keine Klassen, kein Eigentum usw. Sie waren sich nur nicht über den Weg dort hin einig. Während die Anarchisten den bürgerlichen Staat nur zerschlagen wollten und keine klaren Vorstellungen darüber hatten, wie sie ihre Gesellschaft organisieren, wollten die Kommunisten über eine staatskapitalistische Diktatur dort hin kommen und dafür den bürgerlichen Staat nur selbst übernehmen. Beides ist grandios gescheitert und wie ich aus der letzten Schrift von Erich Mühsam weiß, („Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Was ist kommunistischer Anarchismus?“ 1933) ist die Formulierung eines „kommunistischen Anarchismus“ einfach nur der verzweifelte Versuch, auch dem Anarchismus irgend eine Art von „Übergangsgesellschaft“ voran zu stellen. Ich als Radikaldemokrat sage dazu ganz klar nein und befinde mich dabei im Bündnis mit der ursprünglichen Richtung des Anarchismus unter Pierre-Joseph Proudhon „Eigentum ist Diebstahl“, sollte durch eine Revolution sofort abgeschafft und nicht nur verstaatlicht werden. Damit schneidet man allen Konterrevolutionären den Weg zurück ab, indem sie das Staatseigentum nur wieder privatisieren bräuchten, wie im Ostblock geschehen und wie es in China gerade passiert.. Zitat:

Und dort, wo gleichberechtigte Nutznießung an die Stelle von Privateigentum tritt, wäre Kommunismus. Es wäre ein kommunistischer Anarchismus.“

Das folgende Zitat von A.Berkman ist natürlich wieder ein Glanzstück einer Fehlleistung, weil er die Verwaltung und den Schutz einer Gesellschaft nur zerschlagen, aber durch nichts konkretes ersetzen will. Aber gerade das Fehlen von demokratisch legitimierten Strukturen, brachte bisher alle anarchistischen Versuche regelmäßig zum Scheitern, weil dadurch immer wieder eine Willkürherrschaft der dominantesten anarchistischen Führer entstand, die alle Elemente eines Staates auf sich und eine kleine Führungsgruppe vereinigt haben, die sich dann natürlich dem Vorwurf der Willkürherrschaft ausgesetzt sah.

Nein, ich bin kein Bolschewist, denn ein Bolschewist will eine starke Regierung oder einen mächtigen Staat, wogegen der Anarchist Staat oder Regierung ganz und gar abschaffen will.“

2. zum Abschnitt: Ist Anarchie möglich?

A.Berkann wiederholt seine naiven Phrasen aus dem Abschnitt davor und verschwendet damit Raum und Zeit. Bei der Schilderung des Elends der Lohnsklaven, greift A.Berkman auf die Begriffswelt der sozialistischen Staatskapitalisten zurück, weil er ja bereits eine Übergangsgesellschaft im Sinne hat, in der er natürlich die Lohnsklaverei und das Eigentum noch nicht abschaffen möchte. Das Vermeiden, die Dinge bei ihrem richtigen Namen zu nennen, ist mir von sozial befangenen Kleinbürgern, nur all zu sehr bekannt. All diese sich revolutionär gebärdenden Kleinbürger, denen die Worte „Lohnsklave“ und „Eigentum ist Diebstahl“ nicht über die Lippen kommen, lasse ich mit dieser Trickserei nicht durchkommen und verweise sie auf die französische Revolution und dessen radikaldemokratischen Vordenker Jean-Jacques Rousseau und seien Schrift „Der Gesellschaftsvertrag“. Dort finden sie eine klare Sprache, an der sich jeder ehrliche Revolutionär ein Beispiel nehmen sollte.

Natürlich verwechselt A.Berkman auch weiterhin Eigentum mit Besitz und konzentriert sich auf die Abschaffung des „Privateigentums“, ohne zu erwähnen wie das genau vonstatten gehen soll. Da er das Eigentumsrecht nicht durch eine Verfassungsänderung abschaffen will, muss er wohl irgendwann zu dem Punkt der Gewaltanwendung kommen. Den hässlichen Teil seiner Perspektive blendet er natürlich aus.

Die Radikaldemokraten würden mit ihrem Staat der Besitzer lediglich dazu übergehen, die Besitzer vor gewaltsamer Eigentumsnahme zu schützen und das reicht völlig aus, um die ökonomischen Verhältnisse wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Der Staat der Besitzer schützt einfach keine Eigentumstitel mehr, sondern nur das Recht des ersten Besitzers, was sich ganz natürlich durch die physischen Möglichkeiten eines Besitzers, oder einer Gruppe von Besitzern begrenzt.

A,Berkman sein Verständnis dafür, dass die Eigentümer ja auch nur wegen des vorherrschenden Konkurrenzkampfes im Eigentumssystems gejagte Existenzen sind, bezeugt abermals seine kleinbürgerliche Befangenheit, aber trägt überhaupt nichts zu Besserung der gesellschaftlichen Situation bei. Zitat:

Wir werden später auf die Einzelheiten eines Lebens in der Anarchie eingehen und sehen, welche Bedingungen und Institutionen in einer solchen Gesellschaftsform bestehen, wie sie funktionieren und welche Auswirkungen sie wahrscheinlich auf den Menschen haben werden.“

Natürlich folgt dem oberen Zitat keine einzige angeführte „Institution“, sonst würde er ja eine Staatstheorie entwerfen und das würde dem unsinnigen und heuchlerischen Dogma widersprechen, dass der Anarchismus keinerlei institutionelle Gewalt bedarf, um die Konflikte zwischen stärkeren und schwächeren Besitzern zu befrieden. Er zählt zwar reichlich Konflikte auf, die er auch noch im Anarchismus erwartet, aber geht auf diese nur mit unkonkreter und völlig naiver Sozialromantik mit „individuellem Frieden und sozialer Harmonie“ ein. Zitat:

In Wahrheit spielen Recht und Gerechtigkeit eine weit wichtigere Rolle in unserem Leben, als allgemein angenommen wird.“

Durch das Schwelgen über einen „Sonnenschein für Arme“, verdeckt A.Berkman sein Unverständnis darüber, was ein Rechtssystem ist und wie es in einer freien Gesellschaft errichtet und verteidigt werden kann. Lohnsklaven scheinen da etwas Bodenständiger zu sein als Vertreter des Kleinbürgertums, welche nur ungern Regeln akzeptieren, an denen Lohnsklaven den demokratischen Löwenanteil haben werden.

ENDE

J.M. Hackbarth

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Von Redaktion

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