Zum Thema Transhumanismus

Zum Thema Transhumanismus

[R&B 03/21, Seite 7]

Der folgende Kommentar ist eine Antwort auf den Artikel „Covid-19 und der Transhumanismus“ von Anja Wurm, der in der Ausgabe des Zeitschrift „Die Radikaldemokratie und das Besitzrecht“ Nr. 02/2021 vom 30.04.2021 veröffentlicht wurde. Die Autorin äußert in diesem Artikel zweifellos berechtigte Bedenken bezüglich des Transhumanismus, macht es sich aus meiner Sicht aber entschieden zu einfach, wenn sie das Thema ausschließlich negativ betrachtet. Mir fehlen neben einer differenzierteren Betrachtung vor allem die Darstellung der in meinen Augen wichtigsten Problematik bezüglich Transhumanismus in unserer heutigen Zeit und andererseits vernünftige Lösungsansätze. Aus meiner Sicht verschenkt der Artikel damit sehr viel Potential und kommt eher wie ein einseitiger Verriss rüber anstatt einer konstruktiven Auseinandersetzung mit der Thematik. Von daher möchte ich mich an dieser Stelle an einer differenzierteren Darstellung versuchen, die so einfach gehalten ist, dass sie, wenn überhaupt, kaum mehr als Wikipedia für Quellennachweise benötigt.

Transhumanismus ist bereits allgegenwärtig

Frau Wurm erweckt den Eindruck, Transhumanismus sei eine einheitliche Denkrichtung mit den gleichen, klar festgelegten Zielen. Doch selbst in der transhumanen Partei tut man sich mit dem Begriff schwer und schreibt, dass es eben nicht „den“ Transhumanismus gibt und die dargestellte Definition lediglich ein Definitionsversuch ist (Link). Zu vergleichbaren Aussagen kommt auch der Wikipedia-Eintrag zum Thema, der die Vertreter vom Transhumanismus als lose und heterogene Verbindung von Vertretern unterschiedlicher soziokultureller Hintergründe und Disziplinen beschreibt (Link). Es handelt sich also mitnichten um eine homogene, sektenartige Lobbyvereinigung mit dem pauschalen Ziel, die unvollkommene derzeitige Menschheit durch technisch und genetisch optimierte Übermenschen zu ersetzen.

Eine einheitliche Definition vom Transhumanismus und dessen Zielen existiert zwar nicht, dennoch tauchen bestimmte Kernelemente immer wieder auf. Grundlegend kann man sagen, und so tut es ja auch die Autorin, dass Transhumanismus das Bestreben darstellt, die körperlichen und geistigen Grenzen des Menschen mithilfe der Wissenschaft und insbesondere von Technologien zu überwinden bzw. zu erweitern (Link). Frau Wurm erweckt in ihrem Artikel den Eindruck, als handle es sich dabei um eine Denkrichtung unserer Gegenwart. Wenn ich mir jedoch die grundlegenden Kernelemente der Definitionen von Transhumanismus anschaue dann muss ich ganz ehrlich fragen: Was ist daran eigentlich so neu?

Seit jeher ist es ein Bestreben der Menschheit, mithilfe von technischen Errungenschaften über ihre naturgegebenen Grenzen hinauszugehen. Aufgrund der mangelnden Fähigkeit, längere Strecken zu schwimmen, hat man bereits vor zehntausenden Jahren angefangen, Boote zu bauen (Link). In der neueren Zeit kamen motorisierte Fahrzeuge wie Autos dazu. Wir können nicht fliegen, also haben wir Flugzeuge gebaut. Und falls das nicht „körpernah“ genug sein sollte, um als Transhumanismus zu gelten, was ist mit Brillen, die seit dem 13. Jahrhundert zur Verbesserung der Sehkraft eingesetzt werden (Link)? Was mit Herzschrittmachern, die zur Unterstützung geschwächter Herzen eingesetzt werden (Link) oder Defibrillatoren, die unregelmäßig schlagende Herzen wieder in einen regelmäßigen Takt bringen (Link)? Mithilfe dieser invasiven Modifikationen am menschlichen Körper, die es schon 50 Jahre und länger gibt, können viele Menschen noch jahrelang ein würdevolles Leben führen, ohne diese wären sie längst tot oder zumindest schwer pflegebedürftig. Auch unser Denkvermögen wird schon seit Langem durch Technik unterstützt, sei es von den einfachen, seit tausenden von Jahren verwendeten Rechenschiebern (Link) bis hin zu modernen Computern. Und mittels Gentechnik werden Bakterien seit Jahrzehnten dazu gebracht, das menschlich-körpereigene Hormon Insulin zu produzieren, um Diabeteskranken zu helfen (Link).

Gerade die viel gescholtene Gentechnik ist ein gutes Beispiel für die Doppelmoral in der Wahrnehmung vieler Menschen im Umgang mit Errungenschaften bezüglich Transhumanismus. Das menschliche Genom zu verändern sei schlecht, weil es unnatürlich ist. Diese Standards scheint man bei Tieren und Pflanzen jedoch nicht anzulegen, deren systematische genetische Modifikation auf eine mindestens 8000 jährige Geschichte zurückblicken lässt (Link). Denn Züchtung, in der gewünschte Eigenschaften durch selektive Kreuzung immer stärker ausgeprägt werden, ist nichts anderes als Gentechnik bzw. Genmanipulation. Die daraus resultierenden Pflanzen- und Tierzuchten wären in der Natur bzw. im Rahmen der natürlichen Auslese häufig gar nicht überlebensfähig und nur die menschliche Kultivierung und Fürsorge ermöglichen ihr Fortbestehen. Diese Tatsachen sollten sich entschiedene Gegner der Gentechnik vor Augen führen, wenn sie nach der Demo gegen Stammzellforschung mit ihrem schnaufenden Mops an der Leine den nächsten Bioladen ansteuern, um noch ein paar der besonders saftigen und wohlschmeckenden Äpfel mit nach Hause zu nehmen.

Transhumanismus ist aus meiner Sicht also mitnichten etwas Neuartiges und Exotisches. Nein, wenn man sich an den Kernkomponenten der Definitionen orientiert, durchzieht er bereits jetzt unseren kompletten Alltag. Dieser „Siegeszug des Transhumanismus“ ist aber nicht auf die Bemühungen einer mysteriösen Lobbyvereinigung zurückzuführen, sondern vielmehr das Resultat des menschlichen Forschungs- und Entwicklungsdrangs, der unsere moderne Zivilisation überhaupt erst ermöglicht hat.

Ein reflektierter Umgang mit Transhumanismus kommt um die Systemfrage nicht herum

Wenn Transhumanismus ohnehin bereits allgegenwärtig ist, woher stammt dann diese Abneigung gegen bestimmte Errungenschaften bezüglich Transhumanismus wie Digitalisierung, künstliche Modifikationen am Körper oder Gentechnik? Ich vermute, zumindest zu einem Teil ist sie nicht wirklich rational, sondern resultiert aus einem gewissen Unbehagen gegenüber dem Fremden, dem Unbekannten, dem Unnatürlichen. Denn trotz der Allgegenwart des Transhumanismus muss man konstatieren, dass der wissenschaftliche Fortschritt heutzutage natürlich wesentlich vielfältigere Eingriffe in dieser Richtung ermöglicht und dass ständig neue Optionen hinzukommen. Und gegen neue Entwicklungen, das hat die Geschichte oft genug gezeigt, besteht in vielen Fällen erstmal eine eher ablehnende Haltung, weil sie Menschen dazu drängen, ihre gewohnten Werte zu hinterfragen bzw. die Komfortzone ihrer „Werteblase“ zu verlassen. Da dieser Schritt nicht unbedingt bequem ist, versucht man stattdessen, die „Blase“ zu schützen, indem man die Dinge ablehnt, die sie zum „Platzen“ bringen könnten. Ein vollkommen nachvollziehbares, menschliches Verhalten aus meiner Sicht.

Dennoch bleibt eine derartige Abneigung irrational, denn allein die Logik sagt, dass es keine pauschal guten oder schlechten Errungenschaften gibt. Selbst ein einfaches Gerät wie einen Hammer kann man entweder dazu benutzen, Bretter zu nageln und Häuser zu bauen oder dazu, um jemandem den Schädel einzuschlagen. Schwarzpulver hat man für den Bergbau verwendet, aber auch für Kriegswaffen. Flugzeuge, um Passagiere an ihren Bestimmungsort zu bringen oder aber Bomben. Die Liste ließe sich noch sehr lange fortsetzen, aber deutlich wird vor allem Eines: Es liegt nicht an den Errungenschaften selbst, sondern vielmehr an der Absicht bzw. dem Ziel, mit dem sie verwendet werden. Und damit an den Menschen, die sie verwenden. Unter diesem differenzierten Gesichtspunkt sollte man aus meiner Sicht auch den Transhumanismus mit all seinen Werkzeugen und Möglichkeiten betrachten.

Denn wenn ich die die Errungenschaften betrachte, die es bezüglich Transhumanismus heutzutage bereits gibt, fallen mir spontan zwei Adjektive ein: Großartig und beängstigend. Großartig, weil ich als jemand, der selbst Wissenschaftler ist, beeindruckt bin vom kreativen Schöpfergeist anderer. Vor allem aber, weil ich das enorme Potential dieser Errungenschaften zum Wohl der Menschheit sehe. High-Tech Prothesen, die Behinderten oder Verunfallten ein normales Leben ermöglichen, im Reagenzglas gezüchtete Organe, die das Problem mangelnder Spendenbereitschaft ein- für alle Mal lösen, Gentherapien, die chronisch Kranke dauerhaft heilen können, Roboter, die gefährliche Arbeiten übernehmen…die Möglichkeiten des Nutzens sind nahezu grenzenlos.

Ebenso grenzenlos sind jedoch auch die Möglichkeiten des Missbrauchs, und das ist der beängstigende Aspekt. In diesem Punkt teile ich die Befürchtungen von Frau Wurm. Ich habe wenig Lust auf einen Mikrochip im Kopf, der die totale Überwachung aller meiner Körperfunktionen und ggf. einen gezielten Eingriff in diese ermöglicht. Ebenso wenig erstrebenswert finde ich eine Technokratie, die Menschen nicht mehr als Menschen, sondern als beliebig beeinflussbare Molekülsequenzen betrachtet werden und in der Eugenik zum Alltag gehört, etwa das Bestreben, nur noch „perfekte“ Babys zu erzeugen und alle „un-perfekten“ zu entsorgen. Angeregte Diskussionen in diese Richtung werden ja bereits heute geführt, im Bereich Schwangerschaftsdiagnostik und dem damit verbundenen Schwangerschaftsabbruch. Der zunehmende Verlass auf Technologien führt auch dazu, dass sich die Menschen sowohl körperlich als auch geistig zurückentwickeln. Derartige Tendenzen sieht man bereits heute: Die körperliche Leistungsfähigkeit im Vergleich zu früher lässt nach. Der Trend zunehmender Hygiene und Sterilität, besonders bemerkbar jetzt in Corona-Zeiten, führt auf längere Sicht zu einer Rückbildung der Leistungsfähigkeit des Immunsystems. Und wer strengt denn heute noch den Kopf an, um eine komplizierte Formel zu errechnen, wenn ein Mausklick ein wesentlich schnelleres und mit höherer Wahrscheinlichkeit korrektes Ergebnis produziert? Diese Zurückentwicklung führt zu zunehmender Abhängigkeit von den Errungenschaften bezüglich Transhumanismus. Ein derartiger Trend ist aus meiner Sicht nicht komplett vermeidbar, da er ein zwangsläufiges Resultat des menschlichen Fortschritts ist. Aber wenn diese Abhängigkeiten bzw. die Technologien selbst dazu missbraucht werden, um Menschen und deren Verhalten gezielt zu kontrollieren und zu steuern, dann haben wir nicht nur ein kleines Problem. In den falschen Händen sind die heutigen Errungenschaften bezüglich Transhumanismus eine äußerst gefährliche Waffe zur Schaffung von Totalität und Unfreiheit.

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Und dass diese Errungenschaften derzeit in den falschen Händen sind bzw. mit den falschen Absichten missbraucht werden, steht für mich außer Frage, womit wir beim eigentlichen Kern des Problems angelangt sind. Wir leben in einem von Oligarchen kontrollierten, undemokratischen, kapitalistischen System, in dem es mittels Eigentumsrecht möglich ist, dass elitäre Minderheiten sich zu Lasten der Mehrheiten zunehmend bereichern. Das ist der unvermeidliche Weg dieses Systems. Kurzum, es läuft auf eine zunehmende soziale Ungleichheit hinaus, an deren Entwicklungsende es nur noch wenige Superreiche auf der einen Seite gibt, während der Rest der Menschheit sein Dasein in Armut fristet. Wenn, wie es derzeit der Fall ist, die Errungenschaften bezüglich Transhumanismus, dazu genutzt werden, dieses System zu erhalten bzw. den Profiteuren dieses Systems noch mehr Profit zu verschaffen und/oder noch bessere Kontrolle auszuüben, dann geschieht dies niemals zum Wohl der gesamten Menschheit. So etwas ist völlig ausgeschlossen, weil es ein fundamentaler Widerspruch zum Fluss des Systems wäre. Das liegt aber wie gesagt nicht an den Errungenschaften selbst, sondern an deren Verwendungsziel bzw. an denen, die die Verwendung proklamieren. Sicherlich wird die philosophische Strömung der Transhumanisten, wie Frau Wurm schreibt, auch von den Profiteuren dieses Systems missbraucht und unterwandert, um ihre egoistischen Interessen durchzusetzen. Da es sich aber, wie bereits erwähnt, um eine sehr heterogene Strömung handelt, bin ich überzeugt davon, dass es unter den Transhumanisten nicht nur Mietmäuler, sondern auch Idealisten gibt, deren Bestrebungen tatsächlich auf das Wohl der Menschheit gerichtet sind. Wie so oft sind Pauschalisierungen denke ich unangebracht.

Wie löst man also die derzeitige Problematik mit dem Transhumanismus? Aus meiner Sicht damit, indem man das Problem an der Wurzel packt. Wir könnten den Transhumanismus bzw. die damit verbundenen Errungenschaften natürlich vollständig ablehnen und sagen, damit wollen wir nichts zu tun haben. Das wäre der schlechteste Weg, denn den Fortschritt, von dem Transhumanismus nur eine Ausprägung ist, kann man nicht aufhalten. Anstatt uns also völlig unvorbereitet davon überrollen zu lassen, sollten wir lieber gemeinsam das Heft in die Hand nehmen und die Grundlage für einen reflektierten Umgang mit dem Thema Transhumanismus schaffen. Da ein reflektierter Umgang in diesem System nicht möglich ist, muss folgerichtig das System verändert werden. Weg von Oligarchie, weg vom Kapitalismus und weg vom Eigentumsrecht. Hin zu einem wirklich demokratischen System, in dem Menschen nur das besitzen, was sie auch konkret für ein gutes, würdevolles Leben brauchen und in dem sich keine Einzelpersonen unverhältnismäßig und zum Schaden anderer bereichern. Erst ein solcher Systemwechsel wird es uns ermöglichen, einen ehrlichen und differenzierten Diskurs über den Transhumanismus zu führen, der seine Chancen, aber auch seine Risiken und Gefahren gleichermaßen und aus den verschiedensten Perspektiven heraus (z. B. technisch, philosophisch, ethisch, rechtlich, soziologisch) thematisiert. Als Ergebnis dieses Diskurses können Lösungsstrategien im Sinne einer freien und offenen Gesellschaft entwickelt werden, immer mit dem übergeordneten Ziel, den Transhumanismus bzw. seine Errungenschaften möglichst optimal zum Nutzen der Menschheit einzusetzen.

Daniel D.

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Von Redaktion

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